Utopie ohne Hoffnung

Zur Dialektik des Universalismus der Menschenrechte

Die Menschenrechte sind die »letzte Utopie« (Samuel Moyn) – die »realistische Utopie« (Jürgen Habermas) einer Gesellschaft, die keine Utopien mehr kennt. Diese utopische Gestalt nehmen die Menschenrechte aber nur aus weltgesellschaftlicher Perspektive an. In der Mehrzahl der Staaten sind sie bereits als Grundrechte verankert, sind sie gerade keine Utopie, sondern Status quo. Ihren minimalistischen utopischen Gehalt beziehen sie aus dem Impuls ihrer universellen Geltung, der Tatsache, dass sie noch nicht in allen Ländern gelten. 

Die universalistische Ausrichtung der Menschenrechte hat relativistische Kritik heraufbeschworen. Hinter dem Universalismus verberge sich eigentlich ein Imperialismus. Der Westen versuche mithilfe der Menschenrechte andere Völker und Kulturen zu unterwerfen, er sei ein politisches Machtinstrument. Dem hält der Universalismus entgegen, es müsse in einer globalen Gemeinschaft geteilte Mindeststandards geben – Demokratie und Menschenrechte seien nicht verhandelbar. Universalismus und Partikularismus haben beide Recht, aber nicht so wie sie meinen. Sie basieren beide auf Selbstmissverständnissen und führen ins gleiche Dilemma. Ich werde dieses Dilemma zunächst skizzieren und im Anschluss daran die den Menschenrechten zugrundeliegenden Paradoxien, des Rechts und der Moral, explizieren. Ich schließe mit dem Fazit, dass der utopische Gehalt der Menschenrechte sich nicht in ihrer Affirmation, sondern erst in ihrer Kritik entfaltet. 

 

Das Dilemma globaler Menschenrechte 

Lange bevor sich das politische Feuilleton und mit ihm eine breitere Öffentlichkeit den Kopf darüber zu zerbrechen begann, ob und wie die Werte des sogenannten »Westens« (v.a. individuelle Freiheit, rechtliche Gleichheit und Demokratie) exportier- und implementierbar sind, und ob diese Werte überhaupt in allen Weltregionen eingefordert werden dürfen, findet das Vorspiel dessen, was wir heute als Kulturrelativismus-Debatte kennen, hinter den Sichtmauern akademischer Publikationsorgane statt; so zum Beispiel in der Herbstausgabe von 1947 des American Anthropologist. Dort veröffentlicht die American Anthropological Association (AAA) ein »Statement on Human Rights«, das wiederum eine Reaktion auf das erste Treffen des von Eleanor Roosevelt angeführten drafting committee der später in die Geschichte eingegangenen Universal Declaration of Human Rights war. Der Autor des AAA-Kommentars war Melville J. Herskovits, einer der bekanntesten Schüler des Gründers der Amerikanischen Anthropologie Franz Boas. Der in Deutschland geborene und nach Amerika ausgewanderte Boas war ursprünglich Meeresphysiker. 1899 wurde er Professor für Anthropologie an der Columbia University. 

Das naturwissenschaftliche Erbe der amerikanischen Anthropologie wirkt noch in der erwähnten Erklärung von 1947 nach und äußert sich beim Boas-Schüler Herskovits darin, dass er den Kulturrelativismus als eine Philosophie definiert, „die in Anerkennung der Werte, die jede Gesellschaft als Richtschnur für ihr eigenes Leben aufstellt, die Würde betont, die jedem Brauchtumskörper innewohnt«.Melville Jean Herskovits, Man and His Works. The Science of Cultural Anthropology, New York 1948, 76.Die biologistische Formulierung vom Brauch als Körper (im englischen Original »body of custom«) findet sich auch in der Erklärung von 1947 wieder: »Das Denken des Einzelnen, seine Hoffnungen und Bestrebungen, die moralischen Werte, die sein Handeln leiten und sein Leben in seinen Augen und denen seiner Mitmenschen rechtfertigen und ihm einen Sinn geben, werden durch den Brauchtumskörper der Gruppe geprägt, der er angehört.« Und weiter: »Wenn der Kern der Erklärung [Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; HB] eine Erklärung sein soll, in der das Recht des Einzelnen auf volle Entfaltung seiner Persönlichkeit hervorgehoben wird, dann muss dies auf der Anerkennung der Tatsache beruhen, dass sich die Persönlichkeit des Einzelnen nur im Rahmen der Kultur seiner Gesellschaft entfalten kann.«The Executive Board of the American Anthropological Association, Statement on Human Rights, American Anthropologist, New Series 49, Nr. 4, Part 1 (1947), 539–543, hier 539f.; Übersetzung des Autors. 

Aus dem kaum zu leugnenden Umstand, dass Individuen von Beginn an in gesellschaftliche Verhältnisse hinein geboren werden, ziehen Herskovits und die AAA also den Schluss, dass Individualität und individuelle Freiheit nur in den Grenzen der »Kultur« entfaltet werden können. Das Wort »kann« besitzt im Zusammenhang mit dem Begriff »Tatsache« aber eine kaum kaschierte imperative Konnotation: »kann« meint hier »sollte«. Was als »Tatsache« erscheint, ist in Wahrheit eine gesellschaftliche Norm. Folgerichtig setzt der Kulturrelativismus in der von Herskovits formulierten Spielart selbst eine universelle Norm voraus, verdinglicht sie aber als Natur. Beim Kulturrelativismus handelt es sich demzufolge eigentlich um einen Universalismus, insofern er Universalien voraussetzt, die in diesem Fall sogar unveränderliche Wesenheiten (Essenzen) sind. Der essentialistische Relativismus ist ein verkappter essentialistischer Universalismus.  

Letzterer wird in der Regel aber als Antipode des essentialistischen Relativismus verstanden und der Aufklärungsphilosophie zugeschrieben. Diese Form des Universalismus geht davon aus, dass es eine gemeinsame unveränderliche Natur des Menschen gibt – aus der sich dann auch universelle Rechte begründen. Die ersten Verfassungsdokumente der Neuzeit, die der Amerikanischen und der Französischen Revolutionen von 1776 und 1789, entspringen diesem universalistischen Geist.  

Der essentialistische Relativismus hat sich selbst als Reaktion auf den essentialistischen Universalismus verstanden, ungeachtet dessen, dass die zugrundeliegenden Ontologien größere Gemeinsamkeiten aufweisen als den Ideengeber*innen des Kulturrelativismus bewusst gewesen zu sein scheint. Doch auch wenn er sich dabei in eigene Selbstwidersprüche verstrickt, so deutet der Relativismus dennoch auf eine Ungereimtheit des Universalismus hin. Die ersten Institutionalisierungsversuche der Menschenrechte im ausgehenden 18. Jahrhundert sind selbst noch partikular, und dies in mehrerlei Hinsicht: Nicht nur entspringen sie der europäischen Aufklärungsphilosophie, waren sie nur bestimmten Teilen der Bevölkerung vorbehalten und dienten der Institutionalisierung einer neuen Klassenstruktur. Sie waren zudem an das Prinzip territorialer Souveränität und damit an die Idee der Staatsbürgerschaft geknüpft. Im selben Moment, in dem die universellen Menschenrechte schriftlich festgehalten werden (nämlich als Resultat der Revolutionen in Nordamerika und Frankreich), schränkt man sie durch die Verknüpfung mit dem Prinzip territorialstaatlicher Volkssouveränität unmittelbar wieder regional ein, und das heißt: relativiert sie. Damit handelte es sich zwar ideell um Menschenrechte, jedoch praktisch um Bürgerrechte (»rights of citizens«, »droits du citoyen«). Der Universalismus der Menschenrechte wird von Anfang an durch die relativistische Einschränkung ergänzt, dass sich der Geltungsbereich seiner Normen immer nur auf eine konkrete Rechtsgemeinschaft erstrecken kann. Er mündet damit praktisch in einen ethischen Relativismus. 

Es ist denn auch der ethische Relativismus, auf den sich inzwischen Universalismus und Relativismus einigen können. In der jüngeren Debatte reichen sich beide versöhnend die Hände, etwa in der postmodernen Demokratietheorie von Jean-François Lyotard oder im Habermasianischen Begründungsuniversalismus von Seyla Benhabib, die betont: »Die Rechtsform der Menschenrechte kann in konkreten Gesetzen und Verfassungen durch Interpretation und Kontextualisierung legitime Variationen erfahren, vorausgesetzt, dass diese Variationen aus der Ausübung gesellschaftlicher Autonomie vermittels Strukturen der Selbstregierung hervorgehen. Ohne Selbstregierung bleiben die Menschenrechte inhaltslos. Es besteht ein intrinsischer, nicht bloß kontingenter Zusammenhang zwischen Menschenrechten und demokratischer Selbstbestimmung.«Seyla Benhabib, Ein anderer Universalismus. Einheit und Vielfalt der Menschenrechte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 501–519, hier 516. 

Beiden Positionen, der der postmodernen Demokratietheorie und der des Begründungsuniversalismus, ist gleichermaßen klar, dass essentialistische Begründungen desavouiert sind und normative Ordnungen zunächst regional legitimiert werden müssen. Zwar muss diese Legitimation heute vor dem Hintergrund einer globalen Zivilgesellschaft mit internationalen NGOs und supra-staatlichen internationalen Organisationen (vor allem der UN) erfolgen, aber durch das Prinzip der Volkssouveränität wird die interne Autonomie der Normkollektive anerkannt. 

Der zugrundeliegende Widerspruch zwischen allgemeinem Recht und partikularer Volkssouveränität, der durch den Verweis auf jene globalen Organisationen diskursiv gelöst werden soll, drängt aber regelmäßig wieder an die Oberfläche, wenn Menschenrechtsverstöße so gravierend werden, dass sie öffentlich verhandelt werden müssen. Albrecht Wellmer hat das daraus resultierende normative Dilemma des Universalismus ungeschönt ausgesprochen: »Daß die Zerstörung kultureller und religiöser Identitäten und Traditionen eine Verletzung darstellt, steht wohl außer Frage. Daß andererseits ganz ohne solche Verletzungen ein übergreifender liberaler und demokratischer Konsens sich nicht weltweit herausbilden könnte, scheint mir ebenfalls unbestreitbar.«Albrecht Wellmer, Menschenrechte und Demokratie, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frankfurt a.M. 2011, 306–332, hier 326. 

Der Grundsatz des Universalismus, demzufolge alle Menschen das gleiche Recht auf Gerechtigkeit haben sollen, gerät scheinbar zwangsläufig in eine Aporie. Wenn er ungerechte Verhältnisse irgendwo auf der Welt akzeptiert, fällt er hinter seinen universellen Anspruch zurück; wenn er versucht, diese Verhältnisse zu verändern, begeht er selbst Ungerechtigkeiten.  

Wie lässt sich auf das beschriebene Dilemma reagieren? Die Lösung des Begründungsuniversalismus, sich auf das demokratische Diskursprinzip zu verlassen, ist unbefriedigend, weil es das Problem nur verschiebt. Am Grund der Demokratie stoßen wir nämlich auf die gleiche Antinomie von Universalismus und Partikularismus: Die Einzelnen sollen zwar alle gleichermaßen am rationalen Diskurs partizipieren können (insofern ist die deliberative Demokratieidee universell), aber die Wahl des Diskurses (und nicht anderer Formen der Entscheidungsfindung) und einer konkreten Diskursart (der »rationalen«) ist eine partikulare.  

Noch viel grundlegender für den hier verhandelten Gegenstand universeller Menschenrechte ist aber, dass die Diskurstheorie des Rechts die Irrationalität des Rechts (wie auch des Nichtrechts) verharmlost. Habermas geht es denn auch nicht um die diskursive Rationalität der Rechtssubjekte und der von ihnen vorgebrachten Inhalte (das Besondere also), sondern um die Rationalität des Verfahrens der Entscheidungsfindung, die durch den Rechtsstaat institutionalisiert werde (das Allgemeine also). Es ist die Form des modernen bürgerlichen Rechts (im Zusammenspiel mit »weit ausgefächerten autonome[n] Öffentlichkeiten«Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zu Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1998, 363.), der Habermas, trotz aller Ambivalenzen, die gesellschaftliche Integration zutraut und aufbürdet. Er räumt diesem Mechanismus vor den beiden anderen Vermittlungsmechanismen, die er nennt, Geld und administrative Macht, den normativen Vorrang ein. Doch die Form des modernen bürgerlichen Rechts, auf die er sich bezieht, ist gar keine der Solidarität, Gerechtigkeit, Integration, sondern eine der vereinzelten amoralischen Subjekte (also der Partikularität) – sowohl was ihre Voraussetzungen als auch was ihre Konsequenzen betrifft. 

 

Entmächtigende Ermächtigung 

Wie wir sahen, versprachen die territorialstaatlichen Verfassungen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Rhetorik der »rights of man« und »droits de l’homme« trotz ihres regional beschränkten Geltungsbereichs schon eine Art universelles Recht jenseits des Staates. Genau davor graute konservativen Kritikern der Französischen Revolution wie Edmund Burke oder Jeremy Bentham. Sie fürchteten, dass mit der Rhetorik der Menschenrechte sich permanente Revolten gegen den Souverän rechtfertigen ließen. Diese Angst war zwar nicht ganz unbegründet, wie die Folgen der Französischen Revolution für die Monarchien in Europa zeigen. Die Demokratie löst das Problem aber vorerst, indem sie kommunikativ offen für Veränderungen bleibt und das Recht immer wieder den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst. Diese Anpassungen werden gleichwohl im Rahmen der Annahme von vorrechtlichen »natürlichen« Ansprüchen vollzogen, die inzwischen (aller kulturrelativistischer Rhetorik zum Trotz) in fast allen nationalstaatlichen Verfassungen der Welt als unhintergehbare Prinzipien des Rechtsstaats deklariert werden. 

Die Leitidee des Rechts des Rechtsstaats ist dabei die Gleichheit. Wer vor das Recht tritt, soll gleichbehandelt werden. Dieses Prinzip ist allen anderen vorgelagert – auch dem der Freiheit, die als für alle gleich geltend garantiert wird und die durch die Gleichheit begrenzt wird: die Freiheit des Subjekts endet da, wo die Freiheit eines anderen Subjekts verletzt wird. Neben dieser selbstreferentiellen Ebene der Gleichheit im Sinne eines Grundprinzips des Rechtsstaats, legt das moderne Recht aber auch fest, dass die Menschen nicht nur als Rechtsträger, sondern auch als Privatmenschen gleiche sind, und das qua ihrer (gottgegebenen) Natur: »von ihrem Schöpfer mit bestimmten, unveräußerlichen Rechten ausgestattet« (Amerikanische Unabhängigkeitserklärung).  

Das moderne Recht unterscheidet sich von seinen Vorläufern darin, dass es ein vorrechtliches Recht behauptet. Damit unterscheidet es das positiv geltende Recht von einem transhistorischen »natürlichen« Recht – auf das Leben, die Freiheit, das Eigentum, das Streben nach Glück. Dieses Streben existiert, dem Recht zufolge, vor ihm. Es wird als Vorrechtliches, Natürliches gesetzt. Christoph Menke hat gezeigt, dass darin die Gemeinsamkeit der beiden konfligierenden Strömungen des liberalen und sozialdemokratischen Grundrechtsverständnisses liegt. Sie rekurrieren beide auf einen vorrechtlichen Anspruch des Subjekts. Sie sind subjektive Rechte – oder genauer: sie sind subjektivierende Rechte. Denn das subjektive Recht ist subjektives Recht, weil es das Subjekt als wollendes und handelndes überhaupt erst erschafft, es »ermächtigt«: »Subjektive Rechte ermächtigen jeden einzelnen dazu, seine Entscheidungen auf die unhintergehbare Tatsache seines eigenen Wollens zurückzuführen; sie ermächtigen zum bloßen privaten Wollen. […] Die Form subjektiver Rechte ist individualistisch, weil sie den Eigenwillen des Subjekts als Tatsache auffaßt und gelten läßt, also das Subjekt dazu ermächtigt, von der Sittlichkeit des Wollens zu abstrahieren und das Soziale als sein Eigenes zu appropriieren«.Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2018, 207  

Das bürgerliche Recht stellt als erstes Recht in der Geschichte weder »sittliche« noch »vernünftige« Ansprüche an die Einzelnen. Mehr noch: Es tilgt nicht nur das Sittliche, sondern das Soziale im Wollen und Handeln. Es abstrahiert von der Gesellschaft. Das Subjekt, das von ihm emanzipiert wird, ist ein »auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum«Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Marx-Engels-Werke 1, Berlin 1976, 366..  

In diesem Sinne sind die natürlichen (»unveräußerlichen«) rights of man/droits de l’homme/Menschenrechte des modernen Rechts gerade nicht universell, sondern Recht des Partikularen – das Recht der vereinzelten. Die Bestimmung der modernen universellen Gleichheitsvorstellung als Subjektivität ermöglichende Objektivität drückt sich im Recht als Paradoxie des objektiv geltenden subjektiven Rechts aus.Vgl. Niklas Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung, in: Ders., Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, 231. Der Widerspruch zwischen allgemeinem Anspruch des Rechts und der Verschiedenheit des Eigenwillens der Subjekte wird so gelöst, dass das allgemeine Recht das Besondere (die Subjekte) zu seinem Gegenstand macht, es sogar erst herstellt; und zwar innerhalb eines geschützten Bereichs, der intern gerade nicht reguliert, verrechtlicht werden kann, weil er »Natur«, d.h. Nichtrecht ist. Zwar geht die Materie des Nichtrechtlichen in die Techniken und Begründungen des Rechts ein. Das moderne Recht ist ideell selbstreflexiv. Aber in der Praxis, als bürgerliches Recht, wird diese Selbstreflexivität abgebrochen, indem das Materielle, das Nichtrechtliche, die Willkür ontologisch als Gegebenes gesetzt und verdinglicht wird.Vgl. Menke, Kritik der Rechte, 169.

Die Folge dieser Ontologie des bürgerlichen Rechts ist, dass durch die innere Mechanik des Rechts Gesellschaftliches immer schon als Faktisches erscheint – die Freiheit des Subjekts verkehrt sich zum Determinismus des Natürlichen. Insofern handelt es sich bei der Freiheit des bürgerlichen Rechts lediglich um eine Schwundform der Emanzipation. Das Subjekt lässt sich darin nur »als isolierte auf sich zurückgezogene Monade«Marx, Zur Judenfrage, 364., die ihrem Wollen ausgeliefert ist, denken. Aus der Konzeption des bürgerlichen Rechts folgt zweitens, wie gezeigt, die Amoralität des Rechts; es wird »böses Handeln miterlaubt (sofern es nicht rechtlich verboten ist)«.Niklas Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 2, Frankfurt a.M. 1981, 74. Das moderne Recht ist amoralisches Recht. Beide Konsequenzen, die (ermächtigende) Entmächtigung des Subjekts und die (rechtlich produzierte) Entsittlichung des Sozialen sind keine pathologischen Auswüchse des modernen Rechts, sondern Resultat der ihm immanenten Ontologie. 

In den Menschenrechten ist nun jedoch von Beginn an (das heißt seit 1776) ein weiteres Moment angelegt, das dann mit der globalen Durchsetzung der Idee der Menschenrechte 200 Jahre später rhetorisch in den Vordergrund tritt: die Moral. Insbesondere über den Begriff der Menschenwürde soll die relativistische Konnotation der diskurstheoretischen Antwort auf das oben beschriebenen Dilemma, die mit der Affirmation des modernen Rechts als Bürgerrecht eingeschlagen wurde, korrigiert werden. Der Begriff der Menschenwürde soll eine »Entdeckungsfunktion«.Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), 343–357, hier 346. besitzen, indem er Ungerechtigkeit sichtbar macht. 

Ganz davon abgesehen, dass das Dilemma damit nicht gelöst wird, weil der Begriff der Würde so unterbestimmt ist, dass nahezu alles darunter subsummiert werden kann (er also zu universell ist), liefert dieser Ansatz keine Antwort auf die eigentliche Frage, was passiert, nachdem jemand Ungerechtigkeiten entdeckt hat. Spätestens dann ist man nämlich auf das Recht zurückgeworfen mit seinem inhärenten doppelten Partikularismus (territorialer Begrenztheit und subjektivierender Vereinzelung). 

Die Kritik am bürgerlichen Recht kann aber noch aus einem fundamentaleren Grund nicht in der Perspektive münden, Recht wieder unter die Herrschaft der Moral zu zwingen. Der Formalismus des Rechts stellt nämlich bereits einen historischen Fortschritt gegenüber moralischen (und religiösen) Begründungen des Guten und Gerechten dar. Das gilt nicht nur für partikulare und instrumentell eingesetzte moralische Urteile, die im engeren Sinne gar nicht unter den Begriff der Moral fallen, sondern betrifft auch Moral in der emphatischen universalistischen Definition des Begriffs im Sinne einer für alle geltenden Regel.  

 

Der Zwang der Freiheit 

Das zentrale Movens der Moral ist nicht die Gleichheit, sondern die Freiheit. Dies liegt vor allem darin begründet, dass sich ohne die Setzung eines autonomen Subjekts, die Leitfrage der Moralphilosophie, die lautet »Was soll ich tun?«, von vornherein erübrigt. Kant geht sogar so weit, »die Autonomie des Willens […] [als] alleiniges Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten«Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1974, 144. zu definieren. Diese Gleichsetzung von Moral und freiem Willen führt dazu, dass – geradezu spiegelverkehrt zum modernen Recht – in der Moral vom empirischen Wollen radikal abstrahiert werden muss.  

Die Moral umfasst allgemeine Regeln. Das eigene Handeln soll als Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können (so die erste Formulierung des Kategorischen Imperativs). Partikulares, eigeninteressiertes Handeln – also die Mehrheit der empirischen Handlungen – ist gerade nicht moralisch orientiert, sondern folgt »irgend einem Antriebe oder Neigung«Vgl. ebd., 144.. Ein solches triebhaftes Wollen sei dem Naturgesetz unterworfen und damit gerade kein freier Wille. Gleichzeitig wird aber von Kant mit dem Begriff des »Sittengesetzes« und der Konzeption einer »Kausalität durch Freiheit« das Prinzip der Notwendigkeit in das Gebiet der Moral hineingezogen, dessen Grundprinzip der Freiheit eigentlich das Gegenstück zur Notwendigkeit sein soll, mit der Naturgesetze gelten. 

Kant hatte, um die universelle (»kategorische«) Gültigkeit des Sittengesetzes zu begründen, gerade von den empirischen Individuen absehen müssen. Bei der praktischen Vernunft handelt es sich eigentlich um eine theoretische, nämlich »reine praktische Vernunft«. Damit wird aber »der ganze Bereich des Triebs und der Interessen […] mit einer theoretisch sehr grausamen Härte […] unterdrückt, eigentlich nur deshalb, damit ich mich nicht von etwas soll abhängig machen, was mit dem Prinzip meiner eigenen Freiheit, meiner eigenen Vernunft unvereinbar ist«Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M. 1996, 108.. Die Universalität der Moral kann von Kant nur garantiert werden, indem vom »wirklichen Menschen« (Marx), dessen Trieben, Bedürfnissen, Interessen usw. abstrahiert wird. Seine Freiheit findet der Mensch nur dort, wo er völlig verzichtet und sich dem Zwang des Sittengesetzes, das seiner eigenen Vernunft entspringt, fügt. Ähnlich wie die Hauptaufgabe der theoretischen Vernunft darin besteht, die äußere Natur zu beherrschen, so dient die reine praktische Vernunft der Beherrschung der inneren. 

Der zugrundeliegende Dualismus von Geist und Natur spiegelt sich im Subjekt durch den Antagonismus eines doppelten Willens: des Vernunftwillens und des Triebwillens. Diese Dopplung finden wir nicht nur in der Aufspaltung des Normativen in Moral und Recht wieder, sondern auch in der Paradoxie der Moral selbst, die von Kant gleichermaßen als Zwangshandlung und Freiheitshandlung, als »Kausalität durch Freiheit« bestimmt wird.  

In seinen Vorlesungen zu den Problemen der Moralphilosophie weist Adorno darauf hin, dass wir dieses Verhältnis psychoanalytisch als triebstrukturellen Konflikt entschlüsseln können.Vgl. ebd., 120ff. In der »Nötigung« des moralischen Gesetzes erkennen wir dann nichts anderes als die Zwangsherrschaft des Über-Ichs. Das Über-Ich oder »Ichideal« entsteht, Freud zufolge, aus dem Konflikt des primitiven Ichs mit dem ödipalen Es. Letzterem wird als Kompromissvorschlag für die Aufgabe der ersten Sexualobjekte (bei Freud: Mutter und Vater) ein inneres, wenngleich sublimiert begehrtes, Ersatzobjekt angeboten: das nach dem Bild der Eltern geformte Teil-Ich. Aufgrund seiner ursprünglichen Verbindung mit dem Es bleibt das Über-Ich diesem zeitlebens verbunden, es wird von Freud als Teil des Ichs beschrieben, das aber »eine weniger feste Beziehung zum Bewußtsein hat« und seine »Besetzungsenergie […] von den Quellen des Es zugeführt« bekommt. »Es ist das Denkmal der einstigen Schwäche und Abhängigkeit des Ichs und setzt seine Herrschaft auch über das reife Ich fort. Wie das Kind unter dem Zwange stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs.«Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: Studienausgabe 3, Frankfurt a.M. 1994, 296, 319 und 315.

Das Über-Ich als Herrscher über das Ich wandert also eigentümlich zwischen zwei Welten. Es operiert mit Begriffen und Abstraktionen, ist damit Geist (wenn auch nur »vorbewusst«), und speist sich gleichzeitig aus der Triebenergie, ist also Natur. Kant hat diese Verbindung von Moral und Natur, Adorno zufolge, mit der widersprüchlichen Konstruktion einer »Kausalität aus Freiheit« fast aufgespürt, letztlich aber einseitig zugunsten der reinen Vernunft aufgelöst. Als solche ist die »Kantische Moral ihrerseits eigentlich nichts anderes […] als Herrschaft«Adorno, Probleme der Moralphilosophie, 157.. Gleiches gilt nun aber für jede Moral, die ihren materiellen Ursprung nicht reflektiert. 

 

Utopischer Gehalt der Menschenrechte 

Wenn nun die Menschenrechte eine »unwahrscheinliche Synthese aus diesen beiden Elementen« darstellen, der »verinnerlichte[n], im subjektiven Gewissen verankerte[n] und rational begründete[n] Moral, die sich bei Kant ganz in den Bereich des Intelligiblen zurückzieht« und dem »zwingende[n], positiv gesatzte[n] Recht, das absolutistischen Herrschern und altparlamentarischen Ständeversammlungen bei der Einrichtung der modernen Staatsanstalt und des kapitalistischen Warenverkehrs als machtgesteuertes Organisationsmittel dient«Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, 348., dann wird die Emanzipation des Menschen, die eigentlich ihre Absicht ist, durch sie doppelt vereitelt. Als Moral einer globalen Wertegemeinschaft spiegeln sie den universellen Zwang des Sittengesetzes, der sich dann manifestiert, wenn Abweichungen »entdeckt« werden. Die Dämonisierung Israels durch Menschenrechts-NGOs (wie jüngst durch Amnesty International) und die UN zeigt, dass diese Moral gerade, weil sie sich als unhintergehbar und nicht verhandelbar versteht, so irrationale Züge annehmen kann. Als nationales Grundrecht wiederum konstituieren die Menschenrechte das bürgerliche Subjekt. Der Rechtstaat ist nicht nur indifferent gegenüber dem »Bösen«, das im Privaten geschieht, so lange es rechtens ist. Er reproduziert auch die Vereinzelung und Entmächtigung der Individuen. 

Die Menschenrechte versprechen Freiheit und Gleichheit, aber durch die Form, die die Menschenrechte der Freiheit und der Gleichheit geben, zementieren sie Unfreiheit und Ungleichheit. Die Utopie der Menschenrechte, so bescheiden sie auch auftreten mag, ist ein falsches Versprechen. Dass in diesem Fall ein falsches Versprechen besser ist als gar keins, verdeutlicht wie aussichtslos die Lage angesichts der scheinbaren »Naturgesetze« des globalen Kapitalismus sich annimmt. Hinter die Forderung subjektiver Grundrechte für alle sollte keine Kritik der Menschenrechte zurückweichen. Aber das ist keine Utopie, sondern Realpolitik. Utopisch ist die Kritik der Menschenrechte. Denn sie weist mit dem Recht, seinen Kategorien der Freiheit und Gleichheit, über das Recht hinaus. Das Dilemma des Universalismus führt uns auf diesem Weg zum grundsätzlicheren Problem der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem – von Individuum und Gesellschaft; und zur Erkenntnis, dass nicht durch die »politische«, sondern erst durch die »menschliche Emanzipation« (Marx) diese Vermittlung wird gelingen können. 

 

Heiko Beyer  

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und lebt in Düsseldorf und Leipzig.