Verdrängte Geschichte und Verstellte Gegenwart: Eine Antwort auf Amanda

Mit der Diskreditierung des begründeten Arguments als Bescheidwisserei hat Amanda in der Phase 2.37 auf meinen Artikel Der Holocaust, seine Gedächtnisse und der Palästinakonflikt (Phase 2.36) reagiert und dabei beispielhaft die Verkürzung der antideutschen Kritik zur Parole vorgeführt. Die folgende Erwiderung nimmt Amandas Brief zum Anlass, um zu zeigen, wie die Unkenntnis vergangener linker Auseinandersetzungen mit Missverständnissen über die Struktur von Palästinafrage und Nahostkonflikt Hand in Hand gehen.

In der Geschichte der linken Auseinandersetzung mit Palästinafrage und Nahostkonflikt ebenso wie mit der Diskussion um die Wirkungen und Nachwirkungen des Holocaust kommt kaum einem Ereignis eine größere Bedeutung zu, als dem Libanonkrieg des Jahres 1982. Denn auch wenn es vorrangig der Sechstagekrieg von 1967 ist, der aufgrund der aus ihm resultierenden territorialen und demographischen Veränderungen noch bis in die Gegenwart Gegenstand der politischen Debatten ist, brach gerade mit dem Libanonkrieg eine neue Diskussion über Holocausterinnerung, Palästinafrage und deren Zusammenhang auf. Noch heute legen manche der damaligen Positionen ein Vermögen an historischer Urteilskraft offen, hinter das die gegenwärtige Diskussion weit zurückgefallen ist.

Der historische Kontext der damaligen Diskussion, die vor allem in der Berliner tageszeitung geführt wurde, war die Invasion des israelischen Militärs in den Libanon. Im Bündnis mit den christlich-maronitischen PhalangistInnen war dieses Vorgehen jenseits einer Parteinahme im innerlibanesischen Bürgerkrieg vor allem gegen die im Libanon angesiedelte PLO als militärischem Gegner Israels gerichtet. Weil sich die PalästinenserInnen zuvor schon mit der mehrheitlich muslimischen Libanesischen Nationalen Bewegung verbunden hatten, waren sie ebenso zum Gegner der PhalangistInnen geworden. Als deren Kopf Bashir Gemayel im Zuge eines Attentats am 12. September 1982 ums Leben kam, führte dies zu den Massakern innerhalb der palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila. Verübt durch die Milizen der PhalangistInnen und unter dem Schutz des israelischen Militärs, waren im Gefolge der Militäraktion in den beiden Stadtteilen Beiruts mehrere hundert ziviler palästinensischer Opfer zu beklagen. Ihren Auftakt hatte die Diskussion in der tageszeitung allerdings genommen, als einer ihrer Redakteure bereits im Juni desselben Jahres die israelische Militärpolitik im Libanon unter der Überschrift Umgekehrter Holocaust angriff und mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs parallelisierte. In einem anderen Beitrag wurde angesichts des gegen die PalästinenserInnen gerichteten militärischen Vorgehens zudem von einer »israelischen Endlösungsstrategie« gesprochen und damit erneut der Vergleich zwischen israelischer und nationalsozialistischer Politik gezogen. Es geschah vor dem Hintergrund einer derartigen Vermischung historischer Ereignisse und Konstellationen, dass sich der damals im Sozialistischen Büro in Offenbach mitwirkende Dan Diner zu einer öffentlichen Intervention gegen jene offen zur Schau getragene Verantwortungslosigkeit des Vergleichs veranlasst sah. Schließlich war es auffällig, »dass gerade in Deutschland der Begriff der ›Endlösung‹« für das militärische Vorgehen Israels im Libanon »so leichtsinnig Verwendung findet«, was Diner zu dem »wenig täuschbaren Gefühl« führte, »es werde hierzulande geradezu gewünscht, beim israelischen« Vorgehen gegen die PalästinenserInnen »handele es sich um einen wirklich geplanten Genocid, um einen wirklichen Völkermord.« Damit zeugte der Vergleich doch vor allem davon, in welchem Maße »eine solch qualitative Verzerrung für die deutsch-kollektiven Anteile des hiesigen Bewußtseins auch der Linken eine beträchtliche Entlastungsfunktion in sich trägt« und somit Ausdruck der Verdrängung des nationalsozialistischen Judenmordes ist. Gegen eine solche Form der linken und sich als Solidarität mit den PalästinenserInnen ausgebenden Verdrängung beharrte Diner ebenso auf der besonderen historischen Funktion des israelischen Staates, der gerade für die Mehrzahl der dort lebenden Juden zum Fluchtpunkt aus Gründen realer Verfolgung geworden war, wie auf dem singulären Charakter der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Und weil die Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung noch immer mit dem Bewusstsein leben, »kollektiv zum Tode verurteilt worden zu sein«, bedeute die historische Konstellation des Palästinakonflikts immer »auch Fortsetzung deutscher, europäischer Geschichte«. Die linke Darstellung israelischer Politik mit Begriffen, die der Charakterisierung nationalsozialistischer Vernichtungspolitik entsprachen, konnte demgegenüber »nur den Sinn haben, die Opfer der Nazis ihrer Geschichte zu berauben und damit das Täterkollektiv zu entschuldigen.«

Doch gerade weil sich Diners Kritik gegen dieses falsche Vermischung historischer Konstellation wandte, verband sich mit der Forderung nach historischer Unterscheidungsfähigkeit auch eine Analyse des »real existierenden Konflikts« im Nahen Osten. Denn im ganzen Gegensatz zum nationalsozialistischen Vernichtungswillen, der auf antisemitischen Projektionen gründend ein Todesurteil über alle Juden allein ihrer Herkunft wegen ausgesprochen hatte, handelte es sich beim Palästinakonflikt »um einen von Anfang an unvereinbaren Konflikt, um Interessen, die unvereinbar, d.h. nicht kompromissfähig sind, aber nicht um die Umsetzung wilder Projektionen.« Unabhängig von den Gründen, die Jüdinnen und Juden nach Israel brachten, und jenseits aller ideologischen Zuschreibungen war hier das zionistische Projekt einer jüdischen Staatsgründung mit der vorgefundenen palästinensischen Bevölkerung kollidiert. Derlei Darstellung entsprang freilich nicht allein dem Willen zur Unterscheidung historischer Konstellationen, sondern war von dem Bestreben zur Lösung der Palästinafrage auf der Grundlage einer gegenseitigen, jüdisch-israelischen und palästinensisch-arabischen Anerkennung angetrieben. So steht die vergangene Diskussion angesichts des Libanon-Konflikts recht eigentlich für den Versuch, »die Geschichte als Ganzes begreifen [zu] lernen«. Dies bedeutet, den Palästinakonflikt sowohl als eine Verlängerung der deutschen und europäischen Geschichte zu erkennen und zudem Perspektiven einer Lösung im Sinne der israelischen JüdInnen wie der palästinensischen AraberInnen zu entwickeln.

Es gehört zu den zweifelhaften Verdiensten der Antideutschen Linken, diese umfassende Perspektive einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Nachwirkungen einerseits und einer Beschäftigung mit der Palästinafrage andererseits identitätslogisch zerschlagen und die reale Struktur des Palästinakonflikts in der Beschäftigung mit der Geltung und Wirkung des Holocausts aufgelöst zu haben. Gerade davon hat Amandas Leserbrief in der letzten Phase 2 beredtes Zeugnis abgelegt, als sie von der »linken Unart« sprach, »den antisemitischen Krieg gegen Israel zwanghaft als ›Nahostkonflikt‹ relativieren zu müssen.« Jenseits ihrer realen Struktur werden Palästinafrage und Nahostkonflikt damit allein zum Schauplatz ideologischer Darstellung und Projektionen verkürzt. Dem mag angesichts der einschneidenden Wirkung von 9/11 und dem schon lange zuvor aufsteigenden islamistischen Antisemitismus einige Berechtigung zukommen. Schließlich erweist sich der Konflikt im Nahen Osten angesichts derlei Entwicklungen in der Tat als ein vorrangig ideologischer Konflikt. Und dennoch ist es das besondere Kennzeichen gerade der antideutschen Linken, gegenüber der ideologischen Aufladung des Konflikt dessen materielle Grundlagen zu umgehen, und zugleich – so als ob es den Konflikt nicht gäbe – die zionistische Struktur des israelischen Staates zum einzig relevanten Bezugsrahmen im Nahen Osten zu machen. Das mag der fragwürdige Luxus einer deutschen Linken sein, Partei in einem Konflikt zu ergreifen, mit dessen Folgen man selbst nichts zu tun hat. Zur Verdrängung, zumindest aber zum partikularen Erinnern vergangener Diskussionen wird dies aber, wenn die historische Genese der innerlinken Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust von ihren historischen Konstellationen ebenso wie den damit verbundenen Akteuren abgelöst wird. Führt dies doch noch zur nachträglichen Verleugnung linker jüdischer Positionen in Deutschland, die sich auf Grundlage biographischer Erfahrung ebenso zur Auseinandersetzung mit der deutschen Beschäftigung mit dem Holocaust wie mit der Palästinafrage gezwungen sahen. Auch davon zeugt Amandas Beitrag.Dafür steht selbst noch die einseitige Bezugnahme auf Eike Geisel, dessen Biographie ja ebenso das Bemühen vereint, jüdische Kritiken des Zionismus zu verstehen, wie zugleich antisemitisch eingefärbte Israelkritik zu delegitimieren. Gegen diese Form einer antideutschen Verdrängung der Palästinafrage war mein Artikel Der Holocaust, seine Gedächtnisse und der Palästinakonflikt gerichtet, der mit Bezug auf Hannah Arendts Texte aus den 40er Jahren zugleich literarische und essayistische Neuerscheinungen von jüdischen und jüdisch-israelischen Autoren über den Nahostkonflikt und die israelische Holocausterinnerung diskutierte. Amanda von der HUmmel-Antifa hat darauf reagiert und dadurch zugleich die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen antideutschen Position offen zur Schau gestellt. Nichts legt mehr Zeugnis von den Verfallserscheinungen dieser antideutschen Linken ab als das Bestreben, abweichende Gedanken nicht argumentativ kritisieren, sondern allein durch Unterstellungen und Falschaussagen entwerten zu wollen. So hebt ihr Brief gegen den Versuch, sich einer jüdischen Selbstverständigung über Palästinafrage und Holocausterinnerung anzunähern, mit der böswilligen Unterstellung an, sich dadurch »in einen anti-israelischen-Furor« zu schreiben, es den israelischen Juden nämlich »einmal so richtig heimleuchten«, ihnen also eine Abfuhr erteilen zu wollen. Dass eine solche Haltung recht eigentlich darauf zielt, das Wort zu verbieten, wenn der eigenen Position keine Loyalität gezollt wird, könnte als linke Klüngelei abgetan werden, der das Argument gegenüber dem Gemeinschaftssinn nicht zählt. Gerade in dieser Form erweist sich ja auch die antideutsche Linke als beste Nachfolgerin der klassischen deutschen Linken. Die Behauptung aber, die Bezüge auf Tom Segev, Avraham Burg und Hannah Arendt wären »mehr als nur unglücklich gewählt«, ist nichts anderes als der Versuch, den Bezug auch auf jüdische AutorInnen zu verbieten, die dem eigenen antideutschen Selbstverständnis nicht entsprechen. Damit findet sich Amanda freilich in vertrauter Gesellschaft. Auch die Ausführungen von Philipp Lenhard in der Zeitschrift Bahamas sind hierfür emblematisch. Dessen Verriss von Tony Judts Zionismuskritik mündet ja statt im Argument in dem Vorwurf, dieser sei ohnehin »nicht der Urheber seiner Gedanken« und hätte »von dem israelischen Historiker Shlomo Sand abgeschrieben.«Philipp Lenhard, Der neueste Dreh. Antizionisten dekonstruieren das jüdische Volk, in: Bahamas 60 (2010), 21. An die Stelle einer Frage nach verbindenden jüdischen Geschichtserfahrungen und -deutungen jenseits des Zionismus tritt somit allein die Diffamierung.

All das könnte abgetan werden, wenn diese Mischung aus Unterstellungen und Loyalitätsforderungen nicht zugleich in der Zerstörung historischer Urteilskraft münden würde, die jedoch die Grundlage zur Bewertung historischer Konfliktkonstellationen bildet. Davon zeugt aber nicht nur der erwähnte Versuch, den Palästinakonflikt allein in Antisemitismus auflösen zu wollen. Den Unterschied zwischen realen und ideologischen Anteilen des Konfliktes einzuebnen, ist auch deshalb gefährlich, als dies letztlich die spezifische Dimension des europäischen Antisemitismus relativiert. Die andere Seite der Medaille jener Leugnung des Konflikts findet sich wiederum in Amandas Versuch einer historischen Rechtfertigung des Zionismus, die zugleich mein Argument von der fortwährenden Verlängerung des israelischen Gründungskonflikts zwischen jüdischer Staatsgründung und vorgefundener palästinensischer Bevölkerung zu umgehen statt zu kritisieren sucht.

Dessen Kern bestand ja nicht in der Frage, ob der Zionismus legitim oder nicht-legitim ist, sondern vielmehr darin, dass eine jüdische Staatsgründung in Palästina allein um den Preis eines Konflikts mit der vorgefundenen Bevölkerung zu realisieren war. An die Stelle blinder Parteilichkeit sollte der Bezug auf historische Konfliktanalysen treten. Dafür standen gerade Hannah Arendts Schriften der vierziger Jahre paradigmatisch. Angesichts des Holocaust war Arendt ja ebenso von der Legitimität eines jüdischen Staates überzeugt wie sie im Spiegel der Palästinafrage fürchtete, dass ein solcher nur mit einem andauernden Konflikt mit den palästinensischen Arabern und der arabischen Welt zu haben sei. Amandas Bemühen, dieser komplexen historischen Situation mit dem Versuch zu begegnen, dem Zionismus auf Grund der europäisch-jüdischen Erfahrungen und des europäischen Antisemitismus, ebenso wie durch die Charakterisierung des Zionismus als »radikaldemokratischer Emanzipationsbewegung des europäischen Judentums« neue Legitimität zu verleihen, geht jener Gründungskonstellation des israelischen Staats allerdings aus dem Weg. So stehen sich das Bemühen um historische Legitimierung des Zionismus aufgrund der europäisch-jüdischen Erfahrung einerseits und die Konfliktkonstellation im Nahen Osten andererseits gegenüber. Gerade angesichts des fortdauernden Konflikts zwischen Israel und den PalästinenserInnen ist die entscheidende Frage aber nicht allein jene nach der historischen Legitimität des Zionismus, sondern vor allem nach den Bedingung einer Anerkennung der jüdisch-israelischen Existenz durch die palästinensischen AraberInnen in der Gegenwart.

Vor dem Hintergrund einer solchen gegenseitigen Anerkennungsperspektive wird auch das einzig richtige Argument von Amanda entwertet, das die Bedingungen einer solchen Anerkennung an eine Veränderung der palästinensischen Position genauso wie der gesamten arabischen Welt knüpft. Ohnehin gründet auch dieses Argument auf einer Unterstellung, insofern Amanda mir die »alte Lüge« unterzuschieben suchte, »dass der angeblich kolonialistische Zionismus die Ursache für die Probleme der arabischen Gesellschaften darstellt.« Angesichts meines Rekurses auf jüdisch-israelische Selbstverständigungsdiskurse kann davon freilich ebenso wenig die Rede sein wie von der Unterstellung, in einer Anerkennung und Linderung des Leids der palästinensischen Bevölkerung schon den Schlüssel zur Lösung des Konflikts auszumachen. Dennoch hat Amanda ganz recht, wenn sie die »Emanzipation von der alten Judenfeindschaft und von islamisch geprägten Männerbünden wie der Hamas oder der Al-Fatah« zur eigenen Sache der PalästinenserInnen erklärt und evoziert, dass die Probleme der arabischen Welt allein durch einen innerarabischen Wandel gelöst werden können.

Gerade weil aber die Mehrzahl emanzipatorischer Tendenzen zur arabischen Selbstkritik, die mit der Forderung nach einer Säkularisierung und Modernisierung der arabischen Welt verbunden waren, zwar die Existenz einer jüdisch-israelischen Nation anerkannten, aber keineswegs ein repräsentativer Leumund für einen zionistischen Staat waren, wird Amanda sich wohl kaum für sie interessieren. Stattdessen kann sie sich entspannt zurücklehnen und getrost ihre eigenen Selbstgewissheiten zelebrieren und das alles mit dem Gefühl, auf der historisch richtigen Seite zu stehen. Aber »wo auf eine Analyse der Verhältnisse verzichtet wird, um sich allein auf das Gefühl zu verlassen, quasi aus dem Bauch heraus zu urteilen, ohne nach den tieferen Ursachen eines Konflikts zu fragen, dort wird Mensch immer der Linie des geringsten Widerstandes folgen, um die widersprüchliche Welt widerspruchslos zu ordnen.«HUmmel Antifa, Vom Gefühl zur Analyse, in: antifa jugendinfo 01 (2003), 27.

JORGE L. FALKSON

Der Autor lebt in Leipzig