Vom Außen im Innen

Seit einigen Jahren ist es ruhig geworden in der medialen Landschaft zum Thema »AsylbewerberInnenheime« Waren sie Anfang der neunziger von »brennendem« Interesse, um den rassistischen Diskurs zu »Flucht und Überfremdung« anzuheizen, der letztlich den Weg bereitete für die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl, spielen sie heute in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr eine Rolle. Was selbstverständlich nicht heißt, dass sie verschwunden sind, sondern vielmehr darauf hinweist, dass ihre kalkulierte Funktionalisierung Erfolg hat(te).

Auch im Wissenschaftsbetrieb sind die Wirkungen des institutionellen Rassismus in Deutschland kein großes Thema und so erstaunt es auch nicht, dass es nur wenige Untersuchungen zum seit 1982 bestehenden Lagersystem für Flüchtlinge und MigrantInnen mit ungesichertem Aufenthalt gibt.

Mit seiner nun in Buchform erschienenen Dissertation Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik versucht Tobias Pieper eine umfassende Analyse des bundesdeutschen Lagersystems zu liefern. Unter Rückgriff auf verschiedene theoretische Ansätze (Foucault, Kritische Theorie, Bourdieu) arbeitet er das Verhältnis des Lagers zur gesellschaftlichen Totalität, seine Entstehung und gesellschaftspolitische Funktion heraus.

In seinem Selbstverständnis positioniert sich Pieper dabei als Verfechter einer kritischen Sozialwissenschaft und setzt sich selbstreflexiv mit dem Gegenstand seiner Forschung in Beziehung. Eine wertneutrale und vermeintlich objektive Erkenntnis schließt er von vorn herein aus. Jeden positivistischen Versuch einer »reinen« Erhebung und Interpretation von Daten verwirft er als Affirmation des Bestehenden. Wissenschaft ist nach seinem Dafürhalten nicht der Haltung einer ohnehin unmöglichen Unparteilichkeit verpflichtet, sondern einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ihrer Analysen.

Das System der Lager in der BRD lässt sich in Anlehnung an die foucaultsche Diskurstheorie als ein Dispositiv, also als eine Manifestation von Macht verstehen, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in rechtlichen Vorschriften wie Gesetzen und Ausführungsverordnungen kodifiziert. Sie speist sich im Falle der Lager aus den Diskursen zu Einwanderung, Flucht und Asyl. Daher widmet sich das Buch im zweiten Kapitel zunächst den historischen Entwicklungslinien der institutionellen Entrechtung von MigrantInnen seit 1949, bevor das Lagersystem selbst anhand einer Einrichtung in Berlin, zwei Lagern im Land Brandenburg und der Ausreiseeinrichtung in Bramsche (Niedersachsen) exemplarisch analysiert wird.

Das Ziel dieser Untersuchung ist es, sowohl gemeinsame Strukturmerkmale der verschiedenen Lagertypen als auch ihre Diversität in regional unterschiedlichen Formen »auch im Wechselspiel mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt« darzustellen. Dabei werden die spezifischen Segregationsinstrumente, welche die deutsche Gesetzgebung bereithält und die das Leben der Betroffenen maßgeblich strukturieren, einbezogen. Die bedeutsamsten sind das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), welches die Sozialleistungsansprüche von Flüchtlingen unterhalb des für Deutsche üblichen Niveaus und die Art und Weise ihrer Erbringung (etwa Sachleistungen) festsetzt und die sog. Residenzpflicht, die asylsuchende Menschen zum Aufenthalt in den Landkreisen, denen sie zuvor zugewiesenen wurden, zwingt. Die politische Absicht der Lagerunterbringung ist letztlich die Festsetzung, Kontrolle und Verwaltung der Flüchtlinge, ihr Ausschluss aus der Gesellschaft und Einschluss in ein System, dessen Ziel es ist, den Subjektstatus der Eingeschlossenen zu negieren.

Tobias Pieper kennzeichnet einführend das deutsche Lagersystem durch zwei wesentliche Merkmale: dezentral und halboffen. Halboffenheit meint dabei den Fakt, dass die Abgrenzung des Lagerbereichs durch symbolische Barrieren wie Zäune und Pförtner erfolgt, prinzipiell die BewohnerInnen aber aus den Lagern verschwinden können. Dies ist jedoch, sofern sie Europa nicht verlassen, mit einem Abtauchen in die Illegalität gleichzusetzen.

Explizit wird nach der Perspektive der Betroffenen gefragt. Zum einen, weil niemand besser Auskunft geben könnte über die herrschenden Zustände in den Lagern, zum anderen ist dies der Versuch, eine der mit der Lagerunterbringung einhergehenden symbolischen Barrieren zu überwinden. Durch Piepers eigene Beobachtungen während seiner Besuche in den verschiedenen Einrichtungen und, sofern diese zu Aussagen bereit waren, durch eine Darstellung der Handlungsmöglichkeiten der dortigen MitarbeiterInnen wird die Darstellung der Lebensbedingungen aus Sicht der BewohnerInnen ergänzt.

Eingebettet wird die deskriptive Analyse in raumtheoretische Überlegungen, eine Untersuchung der ökonomischen Funktion des dezentralen Lagersystems und eine Zusammenfassung aktueller Ansätze der Rassismusforschung.

Für MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen wie ProAsyl, antirassistische AktivistInnen und die Betroffenen sind die beschriebenen Verhältnisse keineswegs neu. Seit Jahren versuchen Flüchtlingsinitiativen auf die Problematik aufmerksam zu machen. Tobias Pieper gelingt mit seiner systematischen Analyse und theoretischen Fundierung ein wichtiger Beitrag zur kritischen wissenschaftlichen Aufarbeitung deutscher Flüchtlingspolitik.

Tobias Pieper: Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik, Westfälisches Dampfboot, 2008, 425 S., € 29,90.

THOMAS CHÓEBUZ