Vom Imperialismus zum Empire

Wenn von Antonio Negris und Michael Hardts Buch "Empire" die Rede ist, wird fast ausschließlich auf die Konzeption der multitude verwiesen, jener gesellschaftlichen Kraft, die früher der Ausgangspunkt des revolutionären Subjekts war und als "die Massen" bezeichnet wurde. Sie ist für Negri und Hardt auch heute noch - jetzt allerdings in ihrer individualisierten Vielfalt - Motor gesellschaftlicher Entwicklung und Quell der Hoffnung auf eine kommunistische Zukunft, wobei sich die Konturen dieser Zukunft all überall schon abzeichnen. Solche Schwelgereien in den Träumen einer absoluten Demokratie riefen in den Rezensionen hierzulande bestenfalls Hinweise auf einen in diesen Zeiten bewundernswerten bis verwunderlichen Optimismus, der die beiden Autoren befallen habe, hervor. Obwohl die Fragen der multitude für Negri und Hardt unbestreitbar von zentraler Bedeutung sind, soll sich hier und in der nächsten Ausgabe jedoch mit jener Hälfte ihrer Analyse der gegenwärtigen Situation auseinandergesetzt werden, die nicht darauf aus ist, Niedergang und Verfall einer globalisierten Ordnung zu beschreiben, sondern erklären will, was das Empire unserer Zeit im Gegensatz zum Imperialismus sonst noch ausmacht.

Akkumulationsprobleme

Ökonomisch betrachtet ist der Imperialismus in der marxistischen Tradition mit den Fragen der Akkumulation verknüpft. Ausgangspunkt ist die Darstellung der Reproduktion des Kapitals durch Marx. Kapital als in Geld aufgehäufter Wert wird nicht nur in die Produktion investiert, um sich dabei zu reproduzieren, sondern auch, um ein Mehr zu schaffen. Ein Mehr an Wert, das wieder in der Form erscheinen muss, die das Kapital ursprünglich besaß. Weshalb es zum Wesen des Kapitals genauso gehört, dass seine Produkte wieder zu Geld gemacht werden müssen. So sind in der Totalität des Kapitals die Momente der Produktion und ihrer Verwertung, des Verkaufs der Produkte auf dem Markt entsprechend dem investierten Wert und jenes Mehr, enthalten. Die Schwierigkeiten beginnen im Detail. Die Vorstellung des Kapitals als einer Einheit von Investition, Produktion und Verwertung, die aus Geld mehr Geld entstehen lässt, sollte nicht dazu verführen, das reale Auseinanderfallen der Momente des Gesamtprozesses zu übersehen.

Die Planwirtschaft des Realsozialismus war eine Reaktion auf die Differenz dieser Momente, die im Kapitalismus nur als gesamtgesellschaftlicher Prozess immer wieder aufeinander bezogen werden, indem die über die Grenze der Verwertbarkeit hinaus gesteigerte Produktion zwar Gebrauchsgegenstände erzeugt, ihr eigentliches Ziel der Produktion von Wert aber verfehlt. Der Plan sollte verhindern, dass die Produktion einzelner Güter - allein aus der Möglichkeit ihrer Ausweitung - im Verhältnis zur Produktion aller anderen Güter aus der Balance der gesellschaftlich vorhandenen Bedürfnisse kippt, Arbeit also, wie im Falle der nicht verwertbaren kapitalistischen Überproduktion, vergeudet wird. Es geht hier nicht darum, zu zeigen, warum ein solcher Ansatz, trotz der Lösung eines real im Kapitalismus verwurzelten Problems ökonomischer Entwicklung, nicht ausreichend ist, die Logik der Wertproduktion zu überwinden. Es geht darum, die Überproduktion samt der ihr folgenden Krise als jenes Phänomen zu begreifen, auf das Imperialismus und Planwirtschaft eine Antwort finden wollten.

Was aber ist die Überproduktion? Folgen wir der Marxschen Analyse der "Grundrisse der politischen Ökonomie", so handelt es sich um mehr als das bloße Ungleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, die doch eigentlich über den Wert der Produkte gesamtgesellschaftlich so aufeinander bezogen werden, dass Nachfrage und Angebot identisch sind. Die Übereinstimmung des Gesamtwertes in einer Gesellschaft mit der durchschnittlichen notwendigen Arbeitszeit zur Herstellung der Gesamtproduktion ist vielmehr dasselbe Abstraktum wie die Totalität der Prozesse des Kapitals. Betrachten wir den makroökonomischen Zusammenhang dagegen in seinem tatsächlichen Vollzug, erweist er sich als ein Gesetz, das in der Mikroökonomie nur noch vermittelt als zwingende Tendenz wirkt. So zersplittert sich die gesellschaftliche Produktion in eine Vielzahl von Einzelteilen (Lebensmittelproduktion, Rohstoffgewinnung, Maschinenbau, Infrastrukturproduktion, Dienstleistungsgewerbe, Luxusgüterproduktion und was dergleichen mehr noch denkbar ist).

Jeder einzelne Bereich unterliegt im Reproduktionsprozess seines Kapitals der Notwendigkeit, ein Verhältnis zu all den anderen Kapitalreproduktionen zu finden. Denn in der Investition der einzelnen Kapitale lassen sich die Produkte der anderen als Elemente wiederfinden: Investitionen in Maschinen, Lohn für Arbeitskraft, der letztlich zur Konsumtion von Lebensmitteln verwandt wird, Einkauf von Rohstoffen usw. Es geht folglich nicht nur darum, herauszufinden, was in welcher Menge benötigt wird, sondern auch, wie viel Kapital im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess für den Verbrauch eines Gutes vorgesehen ist. Allgemeine Überproduktion findet dann statt, "nicht weil relativ zu wenig von den von den Arbeitern oder zu wenig von den von den Kapitalisten zu konsumierenden Waren [konsumiert wäre], sondern weil [...] zu viel produziert wäre - zu viel nicht für den Konsum, sondern um das richtige Verhältnis zwischen Konsum und Verwertung festzuhalten; zu viel für die Verwertung." (Marx: 356)

Erschwert wird die Bestimmung des richtigen Verhältnisses der Warenarten zueinander durch die Dynamik der Produktivität. Deren Steigerung verändert sowohl das Verhältnis zwischen Produkt und enthaltener notwendiger Arbeit, als auch die Verhältnisse der Teile des investierten Kapitals. Und gleichzeitig zwingt sie jedes Kapital, das sich reproduzieren will, an der gesellschaftlichen Produktivitätssteigerung teilzunehmen. Mit anderen Worten, sich in diese Veränderung zu investieren. Eine solche aus seinem Überschuss gespeiste Investition vermehrt es aber. Denn wenn ein gleichbleibendes Kapital bei erhöhter Produktivität in den Produktionsvorgang investiert wird, steigt die Anzahl der aus ihm hervorgehenden Güter. Makroökonomisch ergibt sich also die Tendenz einer Entwertung des Einzelprodukts im Verwertungsprozess, mikroökonomisch aber führt die Trägheit, mit der sich diese Tendenz umsetzt, entweder zu einem Überschuss an Produkten (was einer gleichbleibenden Bewertung des Gesamtprodukts entspricht) oder zu einer Vergrößerung des Mehrwerts. Das Kapital akkumuliert.

Zwei Arten der Expansion

Akkumulation ist damit mit der Überwindung von Schranken verbunden, die nicht im Produktionsprozess enthalten sind, wohl aber im Reproduktionsprozess des Kapitals. Es ergibt sich einerseits die "notwendige Arbeit als Grenze des Tauschwerts des lebendigen Arbeitsvermögens oder des Salairs [Lohn] der industriellen Bevölkerung" (Marx: 328) und andererseits die Schranke, wie die darüber hinausgehende Produktion verwertet, also aus den Gebrauchswerten, die sie herstellt, Geld gemacht werden kann. Die Überwindung dieser Schranken kann mehrere Formen annehmen. Die permanente Erweiterung der Zirkulationssphäre, in der die Verwertung stattfindet, verweist dabei auf die Thematik des Imperialismus, zumal sie von einer Transformation aller Produktion in eine kapitalistische begleitet ist. "Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke. Zunächst, jedes Moment der Produktion selbst dem Austausch zu unterwerfen und das Produzieren von unmittelbaren, nicht in den Austausch eingehenden Gebrauchswerten aufzugeben, d.h. eben, auf dem Kapital basierte Produktion an die Stelle früherer, von seinem Standpunkt aus naturwüchsiger Produktionsweisen zu setzen." (Marx: 321)
Das ist auch der Kern, auf den sich die marxistische Tradition bei der Analyse des Imperialismus stützt. Doch bei Marx findet sich noch ein weiteres Mittel des Wachstums der Produktion, das für die Analyse entscheidend wird: "Entwicklung von einem stets sich erweiternden und umfassenderen System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reicheres System von Bedürfnissen entspricht." (Marx: 323) Die beiden Arten der kapitalistischen Problemlösung entsprechen ganz unterschiedlichen Weisen der Expansion.

Die imperialistische Lösung

Dass sich die Imperialismustheorien dabei auf die Subsumtion eines dem Kapitalismus äußeren Milieus unter seine Ordnung konzentrieren mussten, leuchtet unmittelbar ein. Dass sie es jedoch für die Akkumulation, d.h. für seine Existenz, voraussetzten, wie dies bei Rosa Luxemburg geschah, ist das Anzeichen für ihre Beschränktheit auf einen bestimmten Entwicklungsprozess des Kapitalismus. Für Luxemburg gilt als Wesen des Imperialismus: "Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs." (Luxemburg: 411)

Die Subsumtion des nicht-kapitalistischen Milieus erfolgt dabei gemäß der Luxemburgschen Theorie auf drei Ebenen. Zum einen muss dort ein Teil des Mehrwerts realisiert werden, der auf dem innerkapitalistischen Markt nicht realisiert werden kann, sprich: die Überproduktion. Zum anderen dienen die Rohstoffe und Produkte dieses Milieus zur Verwandlung des realisierten Kapitals in Investitionen. Die Akkumulation des Kapitals als gegenständliche Ausweitung der Produktionsmittel ist damit von der Möglichkeit des Zugriffs auf nicht bereits im kapitalistischen Verwertungsprozess entstandene Güter abhängig. "Zur produktiven Verwendung des realisierten Mehrwerts ist erforderlich, dass das Kapital fortschreitend immer mehr den ganzen Erdball zur Verfügung hat, um in seinen Produktionsmitteln quantitativ und qualitativ unumschränkte Auswahl zu haben." (Luxemburg: 307) Und schließlich findet die Ausweitung der kapitalistischen Produktion statt, indem neue Arbeitskräfte aus diesem Milieu gelöst werden, um sie unter kapitalistischen Bedingungen auszubeuten. Das Kapital bemächtigt sich so der Welt als Absatzmarkt, Rohstoffquelle und Arbeitsreservoir. Doch dieser Prozess ist alles andere als friedlich. Die Bedingungen, unter denen sich der Kapitalismus Investitions- und Subsumtionsbedingungen schafft, sind von militärischer Gewalt geprägt. Die Bedingungen, unter denen zusätzliche Arbeitskraft akquiriert wird, gehen vom Sklavenhandel über Fronverhältnisse bis zu den "seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitivsten Herrschaftsverhältnissen" (Luxemburg: 312). Der Kolonialismus als Ausdruck des europäischen Imperialismus bedeutet genau diese formale Unterordnung der Welt unter ein kapitalistisches Regime. In ihm geht es um die militärische Beherrschung eines Gebietes, in dem systematisch die Naturalwirtschaft bekämpft wird, um den kapitalistischen Tausch von Warenäquivalenten durchzusetzen, so dass die Bevölkerung aus den Verhältnissen von Subsistenz und ergänzender handwerklicher Produktion unter den kapitalistischen Reproduktionszwang gerät.
Nun hätte gemäß dieser Theorie der Griff nach der Welt zum Untergang des Kapitalismus führen müssen. "Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlussphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten." (Luxemburg: 391f.) Katastrophenhafte Krisen, sich verschärfende Auseinandersetzungen imperialistischer Großmächte, politische und soziale Spannungen, die sowohl in den kapitalistischen Zentren als auch in den subsumierten Regionen nur noch militärisch niederzuhalten sind, all das musste für Luxemburg schon weit vor einem endgültigen Verfall der kapitalistischen Ökonomie zu Revolution und Sozialismus führen.

Weltgesellschaft

Allerdings gab es auch noch andere Weisen, die katastrophalen Konsequenzen des Imperialismus am Beginn des 20. Jahrhunderts zu erklären, als den Bezug auf eine nicht mehr gelingende Akkumulation, die ja auch Luxemburg in dieser historischen Periode noch nicht verwirklicht sah. Hilferding verwies auf ein völlig anders gelagertes Problem, das sich aus der Praxis des Imperialismus ergab. Da dieser auf wirtschaftlichen Unternehmungen von erheblicher Größe beruhte, also die Ausbildung von Monopolkapital voraussetzte und wegen seiner militärischen Durchsetzung von staatlichen Interventionen geprägt war, verhinderte er zunehmend das, was ein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Ordnung ist: Die Wirkung des Werts als organisierendes Prinzip gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Dies zeigte sich an der Unmöglichkeit, eine Ausgleichung der Profitraten zu erreichen.

Mit den Definitionen des Imperialismus innerhalb seines Wirkungsbereichs, ein Innen und Außen der kapitalistischen Produktion zu schaffen, aber auch mit den nationalen Ansprüchen auf Regionen der Welt, die als Kolonien exklusiv ausgebeutet wurden, waren die Wirkungsweisen, durch die der Tendenz nach gleiche Preise für gleiche Waren, gleicher Profit für gleiches Kapital, gleiche Löhne für die gleiche Ausbeutung gleicher Arbeit usw. erzielt werden konnten, außer Kraft gesetzt. Damit wurden aber gleichzeitig die Prinzipien gestärkt, aus denen diese Ungleichheiten hervorgingen. Wenn der Zugang zu Rohstoffen, Märkten, Investitionsmöglichkeiten usw. militärisch versperrt wurde, dann war der Ausdruck imperialistischer Konkurrenz Krieg.
Hilferding entwickelte dagegen eine andere Hypothese eines möglichen Ausgleichs, indem er bei seiner Analyse des Finanzkapitals die Interventionsmöglichkeiten der Geldpolitik beschrieb. Dabei entwickelte er die Theorie einer neuen Phase, in die das ehemals nationale Kapital mit seiner Monopolisierung und Internationalisierung eingetreten sei. Finanzpolitik konnte dem folglich nicht mehr im nationalen Rahmen begegnen, sondern benötigte ein ebenfalls internationales Instrument, eine vereinigte internationale Bank mit der Aufgabe der Nationalbanken. Kautsky entwickelte diesen Gedanken weiter in Richtung einer Weltgesellschaft des Ultra-Imperialismus. In der Weltgesellschaft sollte der Weltmarkt ökonomisch und politisch verwirklicht sein. Das Finanzkapital wäre international vereinigt, so dass die Monopole und Staaten in einen Regulationsprozess eintreten könnten, der dem eines nationalen Marktes vergleichbar wäre. Damit wurde die Tendenz der Internationalisierung mit der Utopie einer Befriedung der Verhältnisse in eins gesetzt

Die Kritik Lenins an diesen Vorstellungen einer Befriedung der imperialistischen Konflikte ist weniger von Unterschieden in den ökonomischen Analysen als von einer grundsätzlich anderen politischen Bewertung geprägt. Geleitet vom Interesse der Zuspitzung der Widersprüche statt der Suche nach Möglichkeiten des Ausgleichs, da die ökonomische Komponente des Imperialismus dessen Bekämpfung nur in Form des Kampfes gegen den Kapitalismus sinnvoll erscheinen ließ, konstatierte er die Nutzung der Aufteilung der Welt für den Export von gesellschaftlichen Widersprüchen. So konnten die nationalen Konflikte in der imperialistischen Auseinandersetzung nach außen gekehrt werden, indem die Nationen zu politischen Kollektivsubjekten wurden. "Lenin sah den Imperialismus als eine strukturelle Stufe bei der Evolution des modernen Staates an. Für ihn gab es einen notwendigen und linearen Fortschritt von den ersten Formen des modernen europäischen Staates zum Nationalstaat und schließlich dem imperialistischen Staat. Auf jeder Stufe dieser Entwicklung musste der Staat Mittel für die Herstellung des allgemeinen Konsenses seiner Bevölkerung erfinden. So musste auch der imperialistische Staat einen Weg finden die multitude und ihre spontanen Formen des Klassenkampfs in seine ideologischen Staatsstrukturen einzubinden; er musste die multitude in ein Volk transformieren." (Negri/Hardt: 232f.)

Die Antwort darauf konnte nicht sein, auf die friedliche Lösung der imperialistischen Widersprüche zu warten, die mit der von Luxemburg und Hilferding beschriebenen Notwendigkeit auftraten, weil die imperialistische Expansion des Kapitals dessen langfristiger Entwicklung immer mehr Grenzen in den Weg stellte. Die Antwort Lenins war die Weltrevolution, die er mit der Krise des I. Weltkriegs als reale Möglichkeit ansah.

Differenzen

Doch allen Analysen über die Notwendigkeit und Möglichkeit des Endes des Kapitalismus in seiner imperialistischen Gestalt zum Trotz müssen wir heute erkennen, dass weder die finale Krise eingetreten ist, noch die Akkumulationsbewegung des Kapitals gestoppt wurde. Und das nicht, weil das imperialistische Projekt neue Kontinente vorzuweisen hätte, auch wenn die Revivals der Grenztheorien auf den untergegangenen realsozialistischen Block verweisen, der erst im letzten Jahrzehnt in den kapitalistischen Weltmarkt integriert wurde, und meinen, die zur Zeit des I. Weltkriegs etwas verfrühten Szenarien vom Ende der Akkumulation würden jetzt, da (abgesehen von Nordkorea und mit Abstrichen Kuba) der ganze Globus dem Kapital Untertan ist, erst ihre tatsächliche Bedeutung erhalten.

Doch auch wenn nicht zu bezweifeln ist, dass diese territoriale Ausweitung der reinen kapitalistischen Ordnung nicht konsequenzenlos für die Akkumulation bleibt, kann daraus keine überzeugende Analyse gestrickt werden. Denn was war nach dieser Theorie in den Jahren bis 1989, in denen der Kapitalismus nicht am Abgrund schwebte, sondern sein ökonomisches Wachstum mit zunehmender Geschwindigkeit fortführte. Wohlgemerkt unter widrigen Bedingungen, legen wir die Maßstäbe des Imperialismus zugrunde. Nicht nur, dass sich die Kolonien in Nationalstaaten verwandelten. Eine nicht geringe Anzahl ging in der Epoche des Kalten Krieges an den Sozialismus verloren. Aber auch die anderen ehemaligen Kolonialstaaten erfuhren unter den Bedingungen der Blockkonfrontation einen Modernisierungsschub, so dass das Kapital schon in dieser Periode die gesamte ihm frei zugängliche Welt unter seine Herrschaft subsumiert hatte, während die Handelsbeziehungen zum Rest nicht den Kriterien genügten, die Luxemburg als wesentlich für die Verhältnisse zwischen Kapitalismus und seinem nicht-kapitalistischen Milieu analysiert hatte. Weder konnte die Überproduktion dort ungehindert abgesetzt werden, noch boten sich die realsozialistischen Staaten zur Kapitalisierung des Mehrwerts an. Die Erfindung des Joint Ventures griff erst zu einem Zeitpunkt, als der Realsozialismus schon gescheitert war.

Statt dessen erscheint der Kalte Krieg als eine Phase der Transformation der globalen Ordnung vom Imperialismus zu einem neuen System der Hegemonien. Die im Kalten Krieg modernisierten Staaten sind heute zweifelsohne Mitglieder eines hierarchisierten Weltmarktes, in dem die Subsumtion unter die Gesetze des Kapitals keineswegs zur einheitlichen Erscheinungsform geführt hat. Trotzdem sind die Beschränkungen, die bei Lenin als Hemmnisse einer kapitalistischen Ordnung beschrieben wurden, weitgehend beseitigt. Und dort, wo sie in der Form bürokratischer Regime, die aus der Tradition der Kolonialverwaltung erwachsen sind, fortbestehen, arbeitet ein Bündnis aus NGOs, IWF und Weltbank an der Beseitigung dieser ungünstigen Bedingungen. Der Imperialismus ist offensichtlich weder in den Zusammenbruch noch in die Weltrevolution übergegangen, sondern in etwas Drittes.

"Das Konzept des Empires ist grundlegend durch das Fehlen von Beschränkungen bestimmt: Die Regeln des Empire haben keine Grenzen. Zunächst und vor allem setzt das Konzept des Empires also ein Regime, das effektiv die räumliche Totalität erfasst, oder genauer über die gesamte ‚zivilisierte' Welt herrscht. Keine territorialen Beschränkungen begrenzen seine Herrschaft. Zum Zweiten präsentiert sich das Konzept des Empires nicht als ein historisches Regime, das aus Eroberung hervorgeht, sondern eher als eine Ordnung, welche die Geschichte effektiv aufhebt und dadurch die bestehenden Verhältnisse in die Ewigkeit dauern lässt. Aus der Perspektive des Empire, ist so die Art, wie die Dinge immer bleiben werden und wie sie schon immer hätten sein sollen. Mit anderen Worten, Empire präsentiert seine Regeln nicht als ein vergängliches Moment in der geschichtlichen Bewegung, sondern als ein Regime ohne zeitliche Beschränkung und in diesem Sinne außerhalb der Geschichte oder am Ende der Geschichte. Zum Dritten operieren die Regeln des Empire auf allen Registern des Sozialen bis hinunter in die Tiefen der sozialen Welt. Empire verwaltet nicht bloß ein Territorium und seine Bevölkerung, sondern erschafft die Welt, die es bewohnt. Es reguliert nicht bloß die menschlichen Beziehungen, sondern versucht auch direkt über die menschliche Natur zu herrschen. Das Objekt seiner Regeln ist das soziale Leben in seiner Gesamtheit, wodurch das Empire die paradigmatische Form der Biomacht darstellt. Schließlich, obwohl die Praxis des Empires beständig in Blut gebadet ist, ist das Konzept des Empires immer dem Frieden gewidmet - ein unaufhörlicher und universeller Frieden außerhalb der Geschichte." (Negri/Hardt: xiv f.)

Die Ökologie des Kapitalismus

Nun mag mit der Definition des Empire zwar ein Feld abgesteckt sein, innerhalb dessen sich die Beziehungen zwischen ehemals imperialistischen und ehemals kolonisierten Staaten beschreiben lassen, aber was ist aus dem Problem der Akkumulation geworden?

Verwerfen wir die Hypothese, der Kapitalismus habe sich einfach auf das beschränkt, was da sei, und sein Wachstum den Gegebenheiten angepasst, und stehen wir auch der Annahme skeptisch gegenüber, der Zusammenbruch des Realsozialismus habe den Kapitalismus in letzter Sekunde vor der Akkumulationskrise gerettet, bleibt unter Rückgriff auf die nicht-imperialistische Art der Expansion, die Marx in den Grundrissen beschreibt, eine dritte Möglichkeit. Sie besteht darin, "dass heute Kapital immer noch durch Subsumtion in einem Zyklus expandierender Reproduktion akkumuliert, aber dass es zunehmend nicht die nicht-kapitalistische Umwelt subsumiert, sondern sein eigenes kapitalistisches Gebiet - d.h. die Subsumtion ist nicht länger formal sondern real. Das Kapital sucht nicht länger außerhalb sondern eher innerhalb seines Bereichs, und seine Expansion ist daher eher intensiv statt extensiv. Dieser Übergang dreht sich um einen qualitativen Sprung in der technologischen Organisation des Kapitals. Frühere Stufen der industriellen Revolution führten von Maschinen hergestellte Konsumgüter und dann von Maschinen hergestellte Maschinen ein, aber jetzt sehen wir uns mit von Maschinen hergestellten Rohmaterialien und Nahrungsmitteln konfrontiert - oder kurz, mit von Maschinen hergestellter Natur und Kultur." (Negri/Hardt: 272)

Die These der Unterscheidung von formaler und realer Subsumtion geht dabei auf eine gleichlautende Unterscheidung bei Marx zurück. Dieser wand sie allerdings nicht auf das Gebiet des Kapitalismus, den Weltmarkt, sondern die Entwicklung der Arbeit im Kapitalismus an. Formale Subsumtion war in diesem Zusammenhang die Produktion, sofern sie unter der Herrschaft des Kapitals stand, also die hergestellten Produkte zu Waren wurden, ohne dass dabei ein Eingriff in die Tätigkeit selbst erfolgte. Mit der Industrialisierung hingegen setzte ein Prozess ein, in dem der Arbeitsprozess selbst vom Kapital gestaltet wurde. Es war nicht länger eine unabhängige Arbeitskraft, die ausgebeutet wurde, sondern die Art und Weise der Arbeitskraft war vollständig durch den Prozess kapitalistischer Produktion bestimmt.

Die Übertragung dieser Unterscheidung auf das Verhältnis von Kapital und nicht-kapitalistischer Umwelt macht dann Sinn, wenn anknüpfend an die Definition des Empires der Kapitalismus auf seiner gegenwärtigen Stufe als eine fortschreitende Unterwerfung menschlichen Lebens in seiner Vielschichtigkeit unter die Reproduktionsprozesse des Kapitals angesehen wird. Mit Marx lässt sich dann von einer Expansion sprechen, die neue Bedürfnisse zugleich produziert und befriedigt und so das Akkumulationsproblem lösen kann, ohne ein territoriales Außen zu entwerfen. Damit sind die Grundlagen der Imperialismustheorien zwar erschüttert, während der Weltmarkt etabliert ist. Der Kapitalismus ist in ein neues Stadium übergegangen, dessen Beginn mit dem Ende des II. Weltkriegs angesetzt werden kann und dessen globale Organisation durch die Konflikte des Kalten Krieges verdeckt aber nicht aufgehoben wurde.

Lesen sie deshalb in der nächsten Ausgabe, wie das Empire die Ordnung der Welt organisiert.

Literatur:

Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Harvard University Press 2000 [eigene Übersetzung]
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42
Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, in: Gesammelte Werke, Bd. 5
Negri/Hardt beziehen sich außerdem auf: Rudolf Hilferding, Finanzkapital Karl Kautsky, "Zwei Schriften zum Umlernen", in: Die Neue Zeit vom 30. April 1915
Lenin, Imperialismus Lenin, Vorwort zu N. Bucharins Pamphlet "Imperialismus und die Weltökonomie

Thomas Hauke
Bündnis gegen Rechts Leipzig