Als das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz 2016/17 die Ausstellung Geld. Archäologie einer Idee zeigte, wurden die BesucherInnen mit einer Installation empfangen, die einen hunderte Kilogramm schweren Rai zeigte, der sich scheinbar schwerelos im Raum drehte. In ihrem kulturellen Kontext auf der Südseeinsel Yap lehnten die bis zu vier Meter im Durchmesser großen und mehrere Tonnen schweren Rai an Häusern und Bäumen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein waren sie in eine Praxis eingebunden, die die soziale Organisation der Bevölkerung über Prestige regelte. Heute dienen sie vor allem als kulturanthropologisches Beispiel zur Bestimmung vormodernen Geldes – so auch in der Ausstellung –, in denen ihnen die objektiven Funktionen von Geld als Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel und Wertmesser zugeschrieben werden.
Die Argumentation ist zusammengefasst folgende: Die Rai bestehen aus den Mineralien Aragonit und Kalzit, die beide auf der etwa 400 km entfernt gelegenen Insel Palau vorkommen. Um die Steinringe zu besorgen, waren eine Mehrtagesfahrt über den Pazifik, die Gewinnung und das Formen des Gesteins sowie der Transport der Steinringe auf Booten und Flößen notwendig. Damit liegen bereits zwei Argumente vor, die nach klassischer objektiver Werttheorie ein Objekt zunächst einmal wertvoll machen: die Seltenheit seines Rohmaterials und ein hohes Maß an aufgewendeter Arbeit. Damit wären die Steinringe vorerst aber nur eine Ware unter vielen. Ihr Gebrauch hat weitaus mehr zur Interpretation von Geld beigetragen. Die Rai wurden im Tausch eingesetzt. Nur jene Männer (sic!), die über Rai verfügten, konnten an Tauschhandlungen z. B. um die Nutzung von Grund und Boden teilnehmen. Erst, wenn das Eigentum am Rai wechselte, war das Tauschgeschäft vollzogen. Damit hätten wir die dritte Kategorie der gebräuchlichen Definition von Geld: Zahlungsmittel. Nun lässt sich ein tonnenschwerer Stein nicht einfach von Hand zu Hand weiterreichen und die Rai wären als Zahlungsmittel nicht praktikabel, wenn nicht noch eine weitere Kategorie hinzukäme, nämlich Vertrauen. Denn einmal aufgestellt, verblieben die Rai an ihrer Position und lediglich das Wissen um die Eigentümerschaft und das Vertrauen in diese Praxis waren ausschlaggebend für alle weiteren Tauschhandlungen. Nun spielt ausgerechnet Vertrauen in der klassischen Ökonomielehre und der allgemeinen Herleitung dessen, was Geld ist, kaum eine Rolle. Das liegt u. a. daran, dass die wirtschaftstheoretischen Grundannahmen bis heute auf den Dogmen der klassischen Ökonomietheorie aufbauen, die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgehen.Adam Smith, The Wealth of Nations (Erstveröffentlichung 1776); David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation (Erstveröffentlichung 1817). Geld ist demzufolge eine neutrale Größe, die lediglich die relativen Preise (und relativen Mengen) aller Güter und Dienstleistungen zum Ausdruck bringt. Es ist ein Mittel zur Erleichterung des Tauschs, was wiederum bedeute, dass Geld sich aus dem Tausch heraus entwickelt habe. Der Tausch wiederum sei ein natürlicher, überhistorischer Hang des homo oeconomicus, der stets im Sinne des Nutzenmaximierungsprinzips rational handelt. Nach diesem Modell basiert gesellschaftliche Entwicklung grundlegend auf den Prämissen, dass erstens der Mensch fortwährend seine Lage zu verbessern, seine Annehmlichkeiten zu mehren sowie seine Anerkennung in der Gesellschaft zu erreichen sucht und dass es zweitens einen gesetzmäßig sich selbst regulierenden Markt (»unsichtbare Hand«) gäbe. Mit diesen Grundannahmen, wenn auch mit einem anderen Wertentstehungsmodell wartet bis heute die hegemoniale neoklassische Wirtschaftstheorie auf. Wert ist nun nicht mehr eine amorphe Größe der Objekte selbst, sondern wird als abhängig vom subjektiv-individuellen Schätzungsvermögen definiert. Abzuschätzen ist der Nutzen, den eine Sache sowohl für den Besitzer als auch für den potentiellen Erwerber hat. Demzufolge entsteht Wert im Tausch und ist keine objektive Größe. Wertanalysen verschoben sich damit von der Sphäre der Produktion in die Sphäre der Zirkulation und einfache Tauschhandlungen wurden zum Muster ökonomischer Rationalität schlechthin. Und Geld ist in diesem Modell hauptsächlich ein Zirkulationsmittel, das den Tausch vereinfacht, indem es als Rechengröße dient. So betrachtet könnten alle ökonomischen Handlungen – auch historische und kulturanthropologische – nach dem Modell des einfachen Tausches analysiert werden wie im eingangs beschriebenen Beispiel der Rai. Aus der Kulturanthropologie regt sich gegen diese Interpretation Widerstand. Die Anthropologin Caroline Humphrey schreibt zum Beispiel: »Schlicht und einfach wurde nicht ein einziges Beispiel einer Tauschwirtschaft jemals beschrieben, ganz zu schweigen davon, dass daraus Geld entstand; nach allen verfügbaren ethnografischen Daten hat es das nicht gegeben«.Zit. nach: David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Hamburg 2011, 35. Doch was dann?
Der menschliche Schuldenberg
In der aktuellen ethnologischen Forschung wird das Paradigma Tausch durch jenes der Schulden ersetzt. Die Erzählung lässt sich grob folgendermaßen zusammenfassen: Geld und Schulden betreten faktisch gleichzeitig die Weltbühne. Zu den frühesten Schriften, die uns überliefert sind, gehören Tontafeln aus Mesopotamien, auf denen Kredite und Schulden verzeichnet sind. Auf den Trobriand-Inseln im Westpazifik beschrieb der Anthropologe Bronis?aw Malinowski 1922 ein Tauschsystem, den kula, der weniger einen gleichwertigen Tausch darstellt, sondern vielmehr immer mit Schulden verbunden ist: Jede Gabe muss zu einem späteren Zeitpunkt mit einer angemessenen Gegengabe erwidert werden. Das Interesse liegt demnach weniger darin, sich gegenüberzustehen und gleichwertige Güter auszutauschen, sondern Schulden zu schaffen, die so lange wie möglich bestehen bleiben, um Prestige anzuhäufen und sich einen Namen zu machen. Denn durch die Schuld, die der Empfänger mit der Annahme einer Gabe eingeht, wird dem Geber, dessen Name dem Tauschobjekt anhaftet, eine soziale Machtstellung zuteil. Gleichzeitig gewinnt auch der Empfänger der Gabe durch die Zurschaustellung des Objektes an Prestige. Die Schulden sind beim kula jedoch von relativ kurzer Dauer, denn wenn ein Objekt von gleichem Rang und gleichem Wert den Platz der ursprünglichen Gabe einnimmt, wird die Schuld getilgt. Die Gegengabe löscht die Schuld aus.Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1996, 134.
Christoph Türcke sieht Opferdarbringungen sogar als die »Urzahlung« an. Sie dienten zur Begleichung von Schuld an höhere Mächte, um Fruchtbarkeit und Vermehrung zu sichern, Tod und Vernichtung zu verhindern. Sie erfüllen Türcke zufolge insofern den Tatbestand des Geldes als sie nicht irgendeine Privatwährung sind, sondern die Währung eines ganzen Kollektivs. Die Geschichte der Zahlungsmittel beschreibt Türcke als eine Substitutionsgeschichte: vom Menschenopfer über das Tieropfer zur Opfermünze bis hin zum Papiergeld. So verlangte die religiöse Schuld immer neue Zahlungen, für Türcke der Ursprung der »Plusmacherei«.
Auch Christina von Braun argumentiert, dass Geld Opfergaben, also auch das Leben von Menschen, ersetzt hätte. Sie schlussfolgert daraus, dass das Geld als Stellvertreter für Menschenleben im Krisenfalle zeigen müsse, wofür es steht. Gleichzeitig sieht sie in der Annahme, dass das Geld seinen Ursprung im Opferkult hatte, eine Erklärung für seine Glaubwürdigkeit. Die ersten Münzen Chinas hatten oft eine Spatenform und verwiesen damit auf »die Schuld« gegenüber der Schöpfung der ersten sesshaften und Landwirtschaft betreibenden Gesellschaften: ein Beispiel unter anderen dafür, dass sich das Geld, um Glaubwürdigkeit zu erlangen, auf den Ursprung aus dieser »Schuld« beruft.Christina von Braun, Der Preis des Geldes, Berlin 2012, 44. Als ab etwa 600 v. Chr. viele griechische Städte begannen, ihre eigenen Münzen zu prägen, vereinte die verschiedenen Zeichen, dass sie alle auf den mit der Verehrung der Gottheit verbundenen Opferkult verwiesen. Tieropfer (Stierköpfe), Opferwerkzeuge (ein Beil) oder auch Fruchtbarkeitssymbole waren Symbole, die sich an den Opferkulten sesshafter Agrargesellschaften ausrichteten, so die Interpretation.Ebd.
Die Münze ist in dieser Entwicklungsgeschichte bereits eine späte Form von Geld. Die ersten Münzen verdanken sich dem Interesse von antiken Tyrannen, ihre Söldner zu bezahlen. Politische Macht und der Besitz von Münzmetall waren in der Antike eng miteinander verknüpft. Antike Münzen tragen auf Vorder- und Rückseite Bild und Schrift desjenigen Herrschers, der ihre Prägung veranlasste und waren so weit mehr als bloßes Zahlungsmittel: sie waren das erste Massenmedium der Geschichte. Die große Reichweite, hohe Auflagenzahlen und vergleichsweise niedrige Herstellungskosten machten die Münze bis zur Erfindung des Buchdrucks zum idealen Kommunikationsmittel. Die Wiedertäufer-Bewegung setzte 1534 Münzen ausschließlich zu Propagandazwecken ein, nachdem sie die Stadt Münster eingenommen und den Besitz und die Verwendung von Geld unter Strafe gestellt hatte. Die von den Täufern ausgegebenen Münzen dienten ihrer Missionstätigkeit.
Der sich im 15. Jh. vollziehende »epochale ›historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel‹«Christoph Türcke, Mehr! Philosophie des Geldes, München 2015, 213.typo3/ war in ein weitgespanntes europäisches Handelsnetz eingebettet. Der Transport von Gold- und Silbermünzen wurde angesichts des umfangreichen Warenangebots bald zu beschwerlich und zu gefährlich. Deshalb wurde der Wechsel erfunden. Er war ein Zahlungsversprechen, das i.d.R. auch ohne Sicherheiten akzeptiert wurde. Ein Händler, der Waren durch einen Wechsel beglich, konnte erst nach Verkauf dieser Waren seinerseits den im Wechsel festgelegten Wert zuzüglich der Wechselgebühr bezahlen. Wechsel waren zunächst nichts Anderes als Mittel zum Zweck der Münzbeschaffung auf Reisen. Mit dem Indossament, der Übertragung eines Wechsels auf einen neuen Begünstigten, lockerte sich das Verhältnis von Wechsel und Münzen. Indossierte Wechsel ließen sich wie Wolle, Seide oder Gewürze verkaufen.Ebd., 217f.
Die Entdeckung des Seewegs nach Indien brachte eine weitere Wertpapierform in Umlauf: die Aktie. Auf der Aktie wurde lediglich eingetragen, welchen Betrag ihr Inhaber eingezahlt hatte. Gewinn bzw. Verlust waren vom Gelingen der Unternehmung abhängig. Mit dieser Unsicherheit, die in einer Aktie steckt, ist aufs engste die Spekulation verbunden. Spekulation ist eine bestimmte Vertragsform, die sich auf eine ungewisse Zukunft bezieht.Joseph Vogel, Im Sog der Zeit, Gespräch mit Philipp Ekardt, in: Texte zur Kunst 93 (März 2014), 109-125, 109, http://0cn.de/f92n. Noch im 16. Jh. fanden spekulative Geschäfte auf den sog. Messen statt, die viermal jährlich abgehalten wurden, d. h. also räumlich und zeitlich begrenzt waren. Verstetigt wurden diese Geschäfte durch die Einrichtung von Börsen. Die erste Börse, an der tatsächlich auch Finanzprodukte wie Aktien und damit entsprechende Zukunftskontrakte gehandelt wurden, war seit Anfang des 17. Jh. die Börse von Amsterdam. In den Niederlanden ereignete sich auch eine der frühesten Spekulationsblasen: die Geschichte des »Tulpenwahns«. Die Begeisterung für Tulpen begann, als erste Exemplare aus dem Osmanischen Reich nach Holland gebracht wurden. Ihre Vermehrung galt anfangs als geheimnisvoll. Bezahlt wurden die Tulpen gewöhnlich erst dann, wenn die Zwiebeln nach der Blüte aus der Erde genommen und übergeben wurden. Eine Konsequenz daraus war, dass sich der Tulpenhandel zu einem Spekulationsgeschäft entwickelte, da weder jemand verbindliche Aussagen darüber treffen konnte, wie die gehandelten Tulpen aussehen, noch ob sie in der neuen Saison überhaupt blühen würden. Aufgrund dieser unklaren Handelsgrundlage wurde das Geschäft mit den Tulpen auch als »Windhandel« bezeichnet. Mit der steigenden Beliebtheit der Zierpflanze kamen neue Formen des Tulpenhandels hinzu. Ab Mitte der 1630er Jahre ließ sich im Vergleich zu anderen Produkten ein extremer Preisanstieg verzeichnen. Noch am 5. Februar 1637 versteigerten die Nachkommen eines Züchters in Alkmaar ihre wertvolle Tulpenerbschaft in einer aufsehenerregenden Auktion. Unmittelbar danach brach in den gesamten Niederlanden der Tulpenmarkt zusammen. Es fanden sich keine neuen Käufer mehr, die in die Preisspirale einsteigen wollten, der Wert von Tulpen fiel um geschätzt mehr als 95 Prozent. In der Folgezeit kam es zu einer allgemeinen Rezession, aus der die große Mehrheit der Floristen aber kaum besser oder schlechter gestellt hervorging. Die Tulpenmanie macht anschaulich, dass der Wert einer Ware nicht mit ihren Natureigenschaften identisch ist, »sondern das Resultat von Bewertungen; dass Waren nicht dingliche Werte zirkulieren, sondern Wertschätzungsverhältnisse.« Türcke, Mehr, 249.
Im Europa des 17. Jh. findet nicht nur die erste Spekulationsblase Aufmerksamkeit, sondern es hält mit dem Papiergeld noch eine weitere Innovation bereit. Mit ihm entfiel nun das Indossament, Banknoten konnten weitergegeben werden wie Münzen – ohne neuen Eigentümervermerk und »ohne dass man ständig auf den günstigsten Moment für ihre Einlösung in Münzen lauern musste.«Ebd., 267. Und Edelmetall wurde knapp. Zwar kam aus Amerika jede Menge Gold und Silber nach Europa, aber eben nie genug. Die meisten Königshäuser mussten in die Unterhaltung ihrer Armeen investieren und befanden sich ständig kurz vor der Pleite. Nachdem England für neue Kriegsvorbereitungen seine Staatsfinanzen völlig zerrüttet hatte, taten sich 1694 reiche Kaufleute zusammen und boten dem König eine Anleihe von 1,2 Millionen Pfund Sterling zu 8 Prozent Zinsen an, wenn sie dafür das Recht erhielten, eine Aktiengesellschaft zu gründen, in Höhe der Anleihe Banknoten auszugeben und damit Bankgeschäfte zu treiben.Ebd. Es entstand die erste moderne Zentralbank: The Governor and Company of the Bank of England. The Bank of England führte 1844 den bereits faktisch geltenden Goldstandard auch formal ein. Demnach durften Banknoten nur ausgegeben werden, wenn ihr nomineller Wert zu 100 Prozent durch Gold oder Staatsanleihen gedeckt war. Für die Finanzierung des Ersten Weltkriegs wurde die Einlösungspflicht von Banknoten in Gold aufgehoben, in den 1920er Jahren kehrten viele Staaten zum Goldstandard zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Bretton-Woods-System als internationale Währungsordnung geschaffen, das in den 1970er Jahren infolge der Eigendynamik der geld- und währungspolitischen Liberalisierungen seine zentrale Rolle einbüßte. So hob die britische Regierung 1986 viele Zulassungsbeschränkungen für Börsengeschäfte auf. Private Kapitalmärkte dominieren gegenwärtig die internationalen Währungsbeziehungen, ein international verbindlicher Ordnungsrahmen für dieses Marktgeschehen existiert nicht.
Infolge der Finanzkrise 2008 hielten viele Experten und Politiker eine Rückkehr zum System der Goldkopplung für machbar. Aus dieser Initiative ging die gegenwärtig geführte Diskussion um das sogenannte Vollgeld hervor. Das Vollgeld-Konzept sieht vor, dass Banken nur so viel Geld als Kredit verleihen dürfen, wie sie es selbst vorrätig haben – in Form von Bargeld oder durch Guthaben bei der Zentralbank. In einem in der Schweiz im Juni 2018 abgehaltenen Volksentscheid über die Vollgeldinitiative lehnten rund 75,7 Prozent der Stimmberechtigten die Einführung ab.
Geld – eine anthropologische Konstante?
Wie die neoklassische Theorie, die im rationalen Tausch den Beginn wirtschaftlichen Handelns und den Ausgangspunkt des Geldes annimmt, hat aber auch die Schuldentheorie einen Haken: sie argumentiert mit anthropologischen Konstanten als Träger von Entwicklung.
Gegen diesen anthropologischen Universalismus lässt sich im Anschluss an die marxistische Theorie ein Veto einlegen.Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Marxinterpretation von Michael Heinrich, Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster 2003. Eine andere Ansicht vertritt bspw. Frank Engster in diesem Heft.typo3/ Marx unterschied in seiner Kritik der politischen Ökonomie zwischen verschiedenen Gesellschafts- und Bewusstseinsformen, was heißt, dass historische Verhältnisse individuelles Handeln bestimmen. Im Umkehrschluss lässt sich daraus ableiten, dass es nicht möglich ist, nicht-kapitalistische Gesellschaften aus einer kapitalistischen Perspektive und vor allem mit einem kapitalistischen Vokabular zu beschreiben. In seiner Theorie unterschied Marx dementsprechend zwischen Ware und Geld sowie zwischen den Tauschformen Ware gegen Ware und Ware gegen Geld und Geld gegen Ware. Die einfache Tauschform Ware gegen Ware bringt noch kein gesellschaftlich gültiges Wertverhältnis hervor. Es bedarf erst eines allgemeinen Äquivalents, das sich fundamental von einer Ware unterscheidet, und das ist nach Marx Geld. Während Waren Gebrauchswerte sind, die im Tausch auch Wert besitzen, fungiert Geld als unmittelbare Verkörperung von Wert über die bloße Funktion eines Rechen- und Zirkulationsmittels hinaus. Und wenn man Marx befragt, was wiederum Wert ist, dann ist es wertbildende, »abstrakte«, d. h. gesellschaftliche Lohnarbeit. In der Konsequenz ließe sich daraus ableiten, dass Gesellschaften ohne Lohnarbeit nicht über Geld verfügen. Doch wie kam nun Geld für Marx in die Welt? Hier kommt Marx‘ Idee des historischen Materialismus zum Tragen, indem nicht die Individuen Träger von Entwicklung sind, sondern die Gesellschaft. Es ist keine dem Menschen zugeschriebene Rationalität als anthropologische Kategorie, sondern es sind die Gesetze der Warennatur und die ökonomische Struktur einer Gesellschaft, die Entwicklung schaffen. Marx erklärte die Entstehung des Geldes also nicht zweckrationalistisch, sondern sachgebunden, d. h. aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten heraus, die je nach Entwicklungsstufe eine spezielle Austausch- und Wertform verlangt. Demzufolge kann erst dann von Geld gesprochen werden, wenn die hergestellten Dinge, also die Waren, auf ein allgemeines Äquivalent bezogen werden. Erst wenn Warenbesitzer dies tun, wird das allgemeine Äquivalent zu Geld, ein Kennzeichen des Kapitalismus.
Gehen wir nun mit dieser Idee zu unserem Ausgangsbeispiel der Rai zurück, so stellt sich die Frage, ob die Rai als Geld zu bezeichnen sind. Wir meinen: nein. Abgesehen davon, dass nur spezielle Tauschhandlungen wie Land- und Hauserwerb mit den Rai vollzogen worden sind, sind die Rai vor allem eine materialisierte soziale Praxis, die Macht und Herrschaft sozusagen tonnenschwer ausdrückt. In der Kulturanthropologie sind solche Ansätze, die die soziale Erscheinungsform von Tausch in den Blick nehmen, spätestens seit den Forschungen von Pierre Bourdieu geläufig. Es verwundert daher nicht, dass sich daraus inzwischen ein Gegendiskurs zum hegemonialen neoklassischen Erklärungsversuch zur Entstehung des Geldes über den einfachen Tausch entwickelt hat. Aber auch wenn Türcke in seiner Arbeit versucht, sich „radikal“ den Anfängen des Geldes zu nähern, indem er bis in die Steinzeit blickt, so sitzt er letztendlich damit neoklassischen Erklärungsmustern einer linearen Entwicklungsgeschichte des Geldes auf, wenn auch als Geschichte von Schulden und nicht als Geschichte des Geldes als Tauschmittel von Anbeginn. Denn die Deutung von »archäologischen Überresten und literarischen Andeutungen«Türcke, Mehr, 22. ist hochgradig spekulativ. So ist Türckes Erklärung, die Menschen der Bronzezeit hätten Beile, Schmuckringe und Werkzeuge als Opfer an die Götter oder Kräfte der Natur vergraben eben nur eine Interpretation von vielen möglichen. Bronzezeitliche Deponierungen können ebenfalls als Überreste eines Potlatchs verstanden werden, d. h. als soziale Handlungen zur Machtdemonstration Einzelner.
Schlussendlich stellt sich die Frage, wozu es dieser großen Meistererzählung zur Entstehung des Geldes bedarf, um die Funktion des Geldes für die kapitalistische Gesellschaft heute zu erklären. Zur Vergewisserung, dass es Alternativen zu den bestehenden Wirtschaftsverhältnissen gibt? Die gab und gibt es, die historische und kulturanthropologische Forschung hält zahlreiche Beispiele – wie eben jenes der Rai – dafür bereit. Mehr jedoch als nach hinten, gilt es vielleicht nach vorn zu schauen und sich die Frage zu stellen: Geht es auch ohne Geld? Doch warum sollten wir Geld überhaupt abschaffen wollen? Ganz unpraktisch ist Geld schließlich nicht. Es erleichtert den Tausch, macht Dinge vergleichbar und hilft uns, Werte über einen langen Zeitraum zu »speichern«. Aber genau diese Eigenschaften können auch zum Problem werden: Wollen wir wirklich alle Dinge auf ihren Geldwert reduzieren und im Leben nicht mehr erreichen, als Geld und noch mehr Geld anzuhäufen?
Doreen Mölders und Susanne Hahn
Susanne Hahn war Kuratorin der Ausstellung »Geld. Die Ausstellung«, die 2016 im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz gezeigt worden ist. Sie ist promovierte Zeithistorikerin.
Doreen Mölders ist seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz. Sie ist promovierte Archäologin.