Waffen für die PKK?

Kurdistan wurde erneut zum Lieblingsschauplatz der Linken

Mit dem Ausspruch »Je suis Charlie« bekundete die halbe Welt in den Tagen nach dem Mordanschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo ihre Solidarität. Nur gute zwei Monate bevor der Chefredakteur Stéphane Charbonnier von Islamisten in seinen Pariser Redaktionsräumen erschossen wurde, hatte er selbst etwas ganz Ähnliches getan. »Ich kenne kein einziges kurdisches Wort, wäre nicht imstande, einen kurdischen Autor zu zitieren«, schrieb er. »Die kurdische Kultur ist mir völlig fremd.« Und trotzdem »bin ich heute Kurde«, so Charbonnier. »Ich denke kurdisch, ich spreche kurdisch, ich singe auf kurdisch, ich trauere auf kurdisch.« Die belagerten KurdInnen in Syrien seien »die Menschheit, die sich der Finsternis widersetzt.« Sie verteidigten nicht nur ihr Leben, ihre Familien, ihr Land, nein, sie seien »das einzige Bollwerk gegen den Vormarsch des ›Islamischen Staates‹ und damit ›verteidigen sie uns alle‹. Gegen den Zynismus und den Tod, befand Charbonnier, »steht heute das kurdische Volk«.

Er ging damit weiter als andere, sprach aber aus, was viele seit dem Beginn des Feldzugs der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« denken. Die lange als mafiös, stalinistisch und jedenfalls nicht ganz koscher verrufenen KurdInnenorganisationen, vor allem die PKK und ihre syrische Schwester PYD, wurden durch den Aufstieg des IS moralisch und politisch gleichsam rehabilitiert. Sie stiegen in kurzer Zeit zum nicht übergehbaren politischen Faktor auf und werden als Bollwerk gegen den IS gefeiert. Was ist wirklich von der PKK zu halten? Sind es tatsächlich geläuterte StalinistInnen, die den Weg zur Befreiung im Nahen Osten weisen, oder lässt nur die Abgründigkeit des IS den noch immer autoritären Charakter der KurdInnenpartei in den Hintergrund treten?

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder etwa dachte im Oktober 2014 laut darüber nach, die PKK mit deutschen Waffen auszurüsten und wurde von SPD und Grünen daran erinnert, dass seine eigene Partei die KurdInnenorganisation 1993 verboten hatte.

Die USA nahmen diplomatische Beziehungen mit der autonomen syrischen Region Rojava auf und bombardierten gleichsam auf Bestellung der PKK IS-Einheiten. Die EU erwägt, die PKK von ihrer Terrorliste zu streichen. Nicht nur ihre Rolle als Bollwerk gegen den mörderischen Feldzug der Dschihadisten änderte den Blick auf die KurdInnen, auch die Selbstverwaltung Rojavas wurde zum Bezugspunkt linker Solidarität. Die drei geografisch voneinander getrennten, von der syrischen PYD beherrschten kurdischen Kantone Afrin, Kobanê und Cizîrê an der syrisch-türkischen Grenze gelten heute vielen nicht nur als Chiffre für den Kampf gegen den IS, sondern auch als das einzige annehmbare Gesellschaftsmodell der völlig im Chaos ethnisch-religiöser Konflikte versinkenden Region.

Diese Haltung reicht weit über jene Kreise hinaus, die einen traditionell wohlwollenden Blick auf die PKK haben. Kurdistan-Solidarität wurde spektrenübegreifend. In Deutschland starteten gleich drei Kampagnen, um Geld für »Waffen für Rojava« zu beschaffen. Die bekannteste – jene, die auch »Waffen für Rojava« heißt – sammelte bis Anfang Januar nach eigenen Angaben 75.000 Euro. Wer etwa im Dezember die »Techno-Inferno«-Party in dem Neuköllner Kellerclub Bertram besuchte, durfte sich am Eingang aussuchen, ob er einen um drei oder lieber um fünf Euro erhöhten Eintrittspreis bezahlen wollte, auf dass der Nachschub an Gewehren und Munition für die Kurden gesichert bleibe. »Angesichts der Angriffe, denen Rojava derzeit ausgesetzt ist, liegt der Schwerpunkt momentan eindeutig darauf, die Verteidigung und das Überleben des kurdischen Projektes zu unterstützen«, sagt Sara Mîrkan von der Gruppe Perspektive Kurdistan, die die Waffenkampagne initiiert hatte.

An einer anderen Kampagne namens »Nachtleben für Rojava« beteiligten sich auch Gruppen und Institutionen, die in der Vergangenheit tunlichst auf Distanz zur vorwiegend antiimperialistisch gesonnenen Kurdistan-Soli-Szene bedacht waren. Hierzu zählte etwa der Berliner Technoclub about blank oder das Kollektiv Love Techno – Hate Germany. Eine ähnlich breite und offensive Spendensammlung für eine Guerilla gab es wohl seit den Hochzeiten der Sandinista- und El Salvador-SympathisantInnen in Deutschland nicht mehr.

Die Erklärung der Interventionistischen Linken namens »Solidarität mit Rojava« schließlich unterzeichneten auch linke Theoretiker wie Dietmar Dath, Diedrich Diedrichsen oder Thomas Ebermann. »Rojava beweist, dass ein friedliches Zusammenleben sowie eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft möglich sind«, heißt es in dem Text. »Genau diese fortschrittlichen Inhalte ziehen den Hass des IS auf sich.« Die taz forderte im August ein Ende des PKK-Verbots und titelte dazu gar »Die PKK gehört zu Deutschland«. In der Jungle World zog Deniz Yücel nach: »Die Dinge sind eindeutig: Wer sich diesen von einem eliminatorischen Wahn beseelten Jihadisten entgegenstellt, steht auf der richtigen Seite.« Die PKK-Begeisterung soll selbst für die Gründung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Doch solche Feinde schadeten den KurdInnen nicht und ihre Sympathisantenschar wuchs stetig. Die plötzlich allseits um sich greifende Solidarisierung war selbst der in einer klar internationalistischen Tradition stehenden Zeitschrift analyse&kritik nicht ganz geheuer. Sie legte im Dezember ein Sonderheft zur KurdInnenfrage in Zeiten des IS auf. Im Editorial warf sie den Organisationen der Solidaritätskampagnen vor, Rojava als »sozialistisches Modell der Zukunft (zu) verklären«. Die »Heroisierung des bewaffneten Kampfes nationaler Befreiungsbewegungen« wiederhole sich, »innere Konflikte im Lager der Guten werden heruntergespielt, Menschenrechtsverletzungen bagatellisiert«, so die a&k-Redaktion. »Da waren wir schon mal weiter.«

Doch allerspätestens nach der Befreiung der zum Symbol für die IS-Gräuel gewordenen Stadt Kobanê Ende Januar hatten KritikerInnen der Waffen-Sammel-Aktion es schwer. Die US-Regierung bedankte sich etwas verklausuliert bei ihren »Partnern«, weil sie die noch immer auf der US-Terrorliste stehende PKK nicht beim Namen nennen wollte. Alte Gegner geben ihr Geld für Waffen und loben sie als einziges Licht im vom Dschihad beherrschten schwarzen Loch der Zivilisation, während ihr wohlgesonnene Kreise vor unkritischem Abfeiern warnen.

Gegründet im Zeichen des Marxismus-Leninismus

Wie viele Guerillas stand auch die KurdInnenpartei gut zwei Jahrzehnte lang für nationale Befreiung im Zeichen des Marxismus-Leninismus. Der Wiener Politikwissenschafter Thomas Schmiedinger, Autor von Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan, beschreibt, wie die PKK Ende der siebziger Jahre in Ankara als Projekt radikal linker kurdischer Studierender entstand. Sie blickten mit Verachtung auf die rückständigen Tribalstrukturen der kurdischen Landbevölkerung und hatten für Revolutionskonzepte wie das einer maoistischen »Bauernguerilla« nichts übrig. Kurdistan galt der Gruppe um den Parteigründer Abdullah Öcalan als vom Imperialismus beherrschte Kolonie. Ihren Auftrag sahen sie demnach in der antikolonialen Befreiung. Ihr Ziel war ein sozialistischer, KurdInnenstaat, der möglichst die Siedlungsgebiete in Syrien, der Türkei, Iran und Irak vereinigen sollte. Im November 1978 gründeten sie in einem Dorf nahe der südosttürkischen Metropole Diyarbakr die PKK: eine kurdisch-nationalistische, autoritäre, zentralistische Kaderpartei. An diesem Charakter sollte sich zwei Jahrzehnte nicht viel ändern.

Auf die Gründung folgte eine Art Konsolidierungsphase im Libanon, während die PKK mit der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas gegen die israelische Invasion im Libanon kämpfte. Mitte der achtziger Jahre nahm sie in der Türkei den Guerilla-Krieg gegen die damals herrschende national-islamistische Regierung der Anavatan-Partei auf.

Während die Partei in vielen Fragen einer orthodoxen marxistisch-leninistischen Ideologie folgte, hatte Öcalan seit den Anfangsjahren seines politischen Wirkens ein ausgeprägtes Bewusstsein für Frauenrechte. Schmiedinger weist darauf hin, dass die PKK schon früh bewaffnete Fraueneinheiten aufstellte und offensiv für Frauenrechte eintrat. Feminismus war ein wichtiges Element der PKK-Ideologie. Die Partei griff die überaus patriarchalen Clanstrukturen der kurdischen Gesellschaft an und verzeichnete viel Zuspruch von jungen Frauen. Die nationale Befreiung glückte vorerst nicht, der der Frauen kam sie ein Stück näher.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eskalierte die Konfrontation mit der türkischen Armee. Die PKK griff Polizeiposten und Armeeeinrichtungen an, der Staat antwortete mit einem Entvölkerungsfeldzug in den als PKK-Rückzugsräume geltenden kurdischen Regionen.

Die umfassendste öffentlich zugängliche Statistik zur PKK-Militanz führt die Global Terrorism Database des National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START) an der Universität von Maryland. Das START wird vom US-Heimatschutzministerium finanziert. Demnach summiert sich die Zahl der militanten Aktionen der PKK seit 1984 auf etwa 1.890. Davon gilt laut START in mindestens 1.218 Fällen die Urheberschaft der Partei als erwiesen. Die Partei verübte ihre Anschläge demnach vor allem während der Hochphase des Krieges in der Südost-Türkei. Etwa zwei Drittel der Getöteten waren türkische Soldaten oder Polizisten, ein Drittel der Opfer waren ZivilistInnen. Rund die Hälfte der Anschläge richtete sich gegen Militäreinrichtungen, Polizeistationen oder Regierungsgebäude, die übrigen gegen zivile Ziele. Insgesamt wurden laut START etwa 5.000 Menschen durch PKK-Kommandos getötet und weitere 3.000 verletzt.

Es ist zweifellos eine blutige Bilanz. Doch zur Wahrheit gehört, dass im selben Zeitraum weit mehr Menschen durch Gewalt des türkischen Militärs zu Tode kamen. Der Konflikt forderte 21.400 zivile Opfer, der frühere Amnesty-International-Rechercheur Helmut Oberdiek rechnet davon zwischen 1990 und 2000 etwa 800 der PKK zu. Bis 1996 wurden nach Angaben von NGOs wie dem türkischen Menschenrechtsverein IHD rund 8.600 PKKler getötet. Die Türkische Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien schätzt, dass die türkische Armee bis zu 1,2 Millionen KurdInnen gewaltsam vertrieben und dabei Tausende Dörfer zerstört hat.

Die Bundesrepublik unterstütze den Krieg der Türkei gegen die KurdInnen unter anderem mit Panzerlieferungen. Innerhalb von Deutschland sind etwa 240 Aktionen der PKK bekannt. Weit über die Hälfte der Anschläge richteten sich gegen Geschäfte von TürkInnen. Bei den PKK-Anschlägen in Deutschland starben drei Menschen, die Umstände sind teils strittig.

Am 26. November 1993 unterbrach das türkische Fernsehen sein Programm für eine Meldung: Mit »tiefer Befriedigung« habe die türkische Regierung das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren Nebenorganisationen in Deutschland zur Kenntnis genommen. Am Morgen des Tages hatte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am Rande der Innenministerkonferenz im sächsischen Oybin das Verbot verkündet. 1996 drohte Öcalan mit weiteren Aktionen in Deutschland. Doch nachdem ein Vertreter des Verfassungsschutzes sowie der damalige Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU) ihn besuchten, änderte er seine Linie. Die Fortsetzung der Konfrontation mit dem deutschen Staat erschien ihm nicht mehr opportun. Er nannte die Militanz in Deutschland einen »Fehler«, die Führung der PKK schrieb dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) einen Brief und kündigte das Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Deutschland an. Die »bedauerlichen Vorfälle« der vergangenen Jahre würden sich nicht wiederholen. Man habe »erhebliche Anstrengungen« unternommen, damit sich alle KurdInnen »an die Gesetze der Länder, in denen sie leben, halten«. Öcalan erklärte, dies gelte selbst, wenn das Verbot bestehen bleibe. Der Innenminister Kanther wies das Angebot als »rein taktisch motivierte Propaganda« zurück. Nach Öcalans Erklärung gab es jedoch nur noch vier Brandanschläge aus den Reihen der PKK in Deutschland. Die Gewalt hatte ein Ende. Der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm stufte die Führungsriege der PKK in Deutschland deshalb 1998 nicht mehr als terroristische, sondern – unter anderem wegen Schutzgelderpressung – nur noch als kriminelle Vereinigung ein.

Keine Freunde der nationalen Befreiung mehr

Ein Jahr später wurde Öcalan in Kenia nach dem Verlassen der griechischen Botschaft vom türkischen Geheimdienst aufgegriffen und in die Türkei gebracht. Weltweit protestierten daraufhin KurdInnen. In Hamburg und der Schweiz konnten von PKK-AktivistInnen unternommene Geiselnahmen ohne Gewaltanwendung beendet werden. Bei Protestaktionen in Berlin jedoch erschossen israelische Sicherheitsleute zwei kurdische Männer und eine Frau und verletzten 16 weitere. Die Menge hatte versuchte, in das israelische Generalkonsulat einzudringen, da der Mossad an der Festnahme Öcalans beteiligt gewesen sein soll. Die Verhaftung Öcalans sollte in jeder Hinsicht eine Zäsur für die PKK sein. Er behielt auch aus dem Gefängnis auf der Insel Imral die Herrschaft über die Partei. Dort wandte Öcalan sich inspiriert von der »Sozialen Ökologie« des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin endgültig von der Idee der nationalen Befreiung ab. Fortan propagierte der KurdInnenführer eine »Demokratie ohne Staat«. Aus Imral publizierte er eine Reihe von Schriften, in denen er die von ihm dekretierte neue Leitideologie skizzierte: Ein Gesellschaftsmodell, das auf Dezentralisierung, Selbstverwaltung, Stadtteilarbeit, Bürgerversammlungen und direkte Demokratie setzt. Das wohl wichtigste Öcalan-Werk aus dem Knast heißt so, wie sein politisches Modell: Demokratischer Konföderalismus (DK).

Wer seine einstige martialische Rhetorik kennt und weiß, wie die PKK mit AbweichlerInnen und GegnerInnen umgesprungen ist, dem musste scheinen, als habe der KurdInnenführer im türkischen Knast ausschließlich Kreide zu essen bekommen. »Staaten verwalten nur, indes Demokratien regieren. Staaten gründen sich auf Macht; Demokratien basieren auf kollektivem Konsens«, schreibt er. Der Staat benutze »Zwang als ein legitimes Mittel«, Demokratien hingegen »beruhen auf freiwilliger Teilnahme«. Der DK sei »offen gegenüber anderen politischen Gruppen und Fraktionen. Er ist flexibel, multikulturell, antimonopolistisch und konsensorientiert. Ökologie und Feminismus sind zentrale Pfeiler.« Die politische Selbstverwaltung möge sich in Form »regionaler Treffen«, »allgemeiner Versammlungen« und »Räten« entfalten, auf dass Politik »zum Bestandteil des alltäglichen Lebens« werde. Der Nationalstaat, auch der türkische, stehe dem DK nicht im Wege: »Unter gewissen Umständen«, so Öcalan, sei »eine friedliche Koexistenz möglich«. Allerdings werde der DK Assimilationsbestrebungen auch »nicht untätig zusehen«. Gleichwohl: »Ein revolutionärer Umsturz oder die Gründung eines neuen Nationalstaats schaffen keine tragfähige Veränderung. Auf lange Sicht können Freiheit und Gerechtigkeit nur innerhalb eines dynamischen demokratisch-konföderalen Prozesses erreicht werden«. Wenn es nach der PKK geht, sollen sich nach und nach am liebsten alle Völker der Region unter dem Dach des demokratischen Konföderalismus sammeln.

Als 2011 der Aufstand gegen Assad losbrach, waren die KurdInnen in der Türkei durch eine Verhaftungswelle, vor allem gegen Mitglieder der legalen KurdInnenpartei BDP, arg geschwächt. Die syrische Schwesterpartei der PKK, die PYD, konnte sich jedoch in den Bürgerkriegswirren behaupten und Gebiete im Norden des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Vielfach wurde ihr vorgeworfen, dies mit einem unausgesprochenen Stillhalteabkommen mit Assad erkauft zu haben: Die PYD hielt Distanz zu den oppositionellen KämpferInnen der Freien Syrischen Armee (FSA), der sie ohnehin nicht zutraut, in einem postrevolutionären Syrien die KurdInnen freiwillig an der Macht zu beteiligen. Im Gegenzug für die militärische Zurückhaltung verschont die Regierungsarmee die Gebiete der PYD weitgehend von Angriffen. »Wir sind in keiner Weise an der Teilung Syriens interessiert«, sagte dazu im November 2012 die stellvertretende Vorsitzende der PYD, Asia Abdullah Osman, bei einem Besuch in Deutschland. »Wir sind strikt gegen Assad, aber um die Bevölkerung zu schützen, haben wir mit Erfolg versucht, die Kämpfe aus unseren Gebieten fernzuhalten.« Der Kampf gegen Assad, wie ihn die FSA führe, bedeute »unendliches Leid für die Bevölkerung.« Deswegen habe sich die PYD »für einen dritten Weg entschieden« und wolle dazu »weder mit Assad noch mit der FSA zusammenarbeiten.« Das einzige Mittel der FSA sei die Gewalt. Zudem habe sie sich »nicht zur KurdInnenfrage positioniert«. Deshalb strebten die KurdInnen in Syrien für die Zeit nach dem Sturz Assads eine »Selbstverwaltung in Form einer demokratischen Autonomie an«, sagt Osman damals.

Was Osman meinte: Die syrischen KurdInnen hatten sich zur Aufgabe gemacht, in Rojava den ersten Versuch zu unternehmen, die Leitideologie ihres Führers als reales politisches Projekt zu verwirklichen. Geworden sei daraus ein »Modell für den ganzen Nahen Osten«, sagt heute die Sprecherin des kurdischen Nationalkongresses, Songül Karabulut: »Rojava ist ein säkulares, multiethnisches Gemeinwesen jenseits staatlicher Grenzen in einer Region voller ethnisch-religiöser Konflikte.« Ist es den KurdInnen tatsächlich geglückt unter den widrigst denkbaren Umständen – bedrängt vom IS und der Türkei, verboten in Europa, mit einem eingesperrten Anführer und mitten im syrischen Bürgerkrieg – ein emanzipatorisches Gesellschaftsmodell aufzubauen? Viele sehen es so.

Der dem Vernehmen nach in engem Briefkontakt mit Öcalan stehende amerikanische Theo-retiker Michael Hardt schreibt, in den kurdischen Kommunen werde »mit einer neuen Form der Demokratie experimentiert.« Ähnlich äußerte sich der an der London School of Economics lehrende Anarchist und Occupy-Aktivist David Graeber. Nach einem Besuch in Rojava schrieb er im Guardian, die Region sei »einer der wenigen, wenn auch sehr hellen Lichtblicke, die aus der Tragödie des syrischen Krieges hervorgehen«. Die KurdInnen hätten dort Volksversammlungen als »ultimative Entscheidungsgremien« geschaffen und Räte mit sorgfältig austariertem ethnischen Proporz aufgebaut.

Auch Ercan Ayboga von der PKK-nahen Kampagne Tatort Kurdistan hat im Mai 2014 mit einer Delegation Rojava besucht. Er beschreibt den Alltag in der Region näher. Die »Kommune« sei »in den Mittelpunkt des Gesellschaftssystems gerückt«, so Ayboga. Eine »Kommune« bestehe aus etwa 50 Haushalten. Als kleinste, aber wichtigste politische Einheit bilde sie Kommissionen, die sich mit allen gesellschaftlichen Fragen befassen: von der Verteidigung über die Bekämpfung patriarchaler Gewalt bis zur Müllabfuhr. Die Kommune sei nicht nur ein Ort der Selbstorganisierung, sondern auch der gesellschaftlichen Konfliktlösung. Sie befasse sich mit sozialen Problemen im Stadtteil, der Unterstützung ärmerer Mitgliedern der Kommune und der gerechten Verteilung von Brennstoff, Brot und Lebensmitteln. Konflikte und Nachbarschaftsstreits, aber auch Gewalt gegen Kinder würden auf den Treffen der Kommune verhandelt und zu lösen versucht. Es gebe Sozialkomitees, die Familien ohne Einkommen Grundnahrungsmittel stellen.

Zur Seite stehe den Kommunen das Mala Gel genannte »Volkshaus«, eine Art erstinstanzliche Gerichtsbarkeit. Die Justiz folge dem »Einigungs- und Kompensationsgedanke«, schreibt Ayboga. Ursachen eines Regelverstoßes sollen »untersucht und beseitigt und die Opfer geschützt werden«. Die Kommunen wählen Vorstände und entsenden diese in Stadtteilräte und schließlich in den »Gesamtrat«, den »Volksrat Westkurdistans« MGRK, einer Art Regionalregierung.

Auf allen Ebenen Rojavas müssten mindestens 40 Prozent Frauen und mindestens 40 Prozent Männer in den Gremien vertreten sein. Entschieden werde im Konsens. Ayboga lobt sogenannte Frauenhäuser, in denen »Frauen zusammenkommen, sich gemeinsam bilden, ihre Probleme besprechen, den Umgang mit Computern lernen und sich gegenseitig Hilfe bei gesellschaftlichem Sexismus« geben. Bei häuslicher Gewalt trete ein »Friedenskomitee« auf den Plan, zudem kämen betroffenen Frauen Sicherheitskräfte zur Hilfe.

»Mehr Notverwaltung als Alternative zum Kapitalismus«

Rojava habe sich am Schweizer Kantonmodell mit seiner weitgehenden Autonomie der Regionen orientiert, schreibt Ayboga. Angestrebt werde in den nicht mal ein Zehntel des syrischen Staatsgebiets umfassenden Rojava gleichwohl eine »Doppelstruktur«: Ein Parlament, zu dem so bald wie möglich freie Wahlen unter internationaler Beobachtung stattfinden werden, solle eine Übergangsregierung bilden.

Etwas weniger angetan ist der Wiener Politikwissenschaftler Schmiedinger. Die PYD habe die Grundversorgungsgüter organisiert und monopolisiert. Es handele sich jedoch »eher um eine militärische Notverwaltung« als um eine ökonomische Alternative zum Kapitalismus. Das Recht auf Privateigentum wolle die PYD nach eigenem Bekunden nicht antasten, so Schmiedinger im Oktober 2014. Der »Premierminister« des Kantons Cizîrê sei einer der reichsten Landbesitzer Syriens. Allerdings, so räumt er ein, war die PYD gezwungen, »mit der Oligarchie ein Zweckbündnis zu schließen«. Das Projekt Rojava sei »innerkurdisch umstritten«, viele kurdische Parteien weigerten sich, in die MGRK-Regierung einzutreten. Sie werfen der PYD einen »autoritären Führungsstil« vor, so Schmiedinger.

Diesem Vorwurf ist auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) nachgegangen. Die PYD gestattete HRW im Frühjahr, die drei unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete zu besuchen. Das Urteil: »Die Selbstverwaltungsbehörden in den drei kurdischen Enklaven im Norden Syriens sind für willkürliche Verhaftungen und Verletzungen von Verfahrensrechten verantwortlich«, schreibt HRW. Zudem haben sie nichts gegen ungeklärte Morde und Verschleppungen getan. »In den kurdisch kontrollierten Gebieten in Syrien geht es ruhiger zu als im Rest des Landes, aber dennoch geschehen dort schwere Menschenrechtsverletzungen«, sagte Nadim Houry von HRW. Es gebe mehrere Fälle, in denen die von der PYD betriebene Polizei offenbar Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien wegen ihrer politischen Aktivitäten festgenommen haben. In einigen Fällen wurden Oppositionelle nach unfairen Gerichtsverfahren verurteilt, üblicherweise wegen einer angeblichen Beteiligung an Bombenattentaten. Gleichwohl: Mit dem Terror des in Sichtweite agierenden IS ist all dies nicht ansatzweise zu vergleichen.

Bis heute begegnen viele, auch viele Linke, der PKK mit großer Skepsis. Das kommt nicht von ungefähr. Wer die Geschichte der Partei anschaut, wird vieles entdecken, das mit westlicher Fortschrittlichkeit und Aufklärung unvereinbar ist. Ihre Vergangenheit ist bis heute kaum aufgearbeitet. 2012 veröffentlichte der PKK-Obere Murat Karaylan mit Zustimmung Öcalans ein Buch unter dem Titel Anatomie eines Krieges. Darin übte er nach eigenen Angaben umfassende »Selbstkritik der Organisation«, vor allem mit Blick auf die Ermordung von ZivilistInnen in den achtziger Jahren. Doch weitere Schritte unternahm die Partei nicht. Sie begründet das damit, dass auch die Türkei keine Anstalten macht, ihre Verbrechen zu thematisieren.

Wirklich demokratisch ist die PKK nach innen nicht. An der maßlosen Überhöhung ihres Führers Abdullah Öcalan hält sie unbeirrbar fest. Wer mit hohen kurdischen FunktionärInnen spricht, bekommt irritierende Schwärmereien über seine geistige »Tiefe«, seine »Weisheit«, seine »Güte« zu hören. Die Sprecherin des kurdischen Nationalkongresses, Songül Karabulut, formulierte es so: »Eine Annäherung an Öcalan ist eine Annäherung an die Kurden.« Es sei inakzeptabel, den KurdInnen zu sagen: »Wir akzeptieren euch, aber euren Anführer lehnen wir ab«. Die Forderung zeigte die westliche Überheblichkeit. »Sie wollen den Kurden vorschreiben, welchen Führer sie sich wählen sollen. Öcalan hat das kurdische Volk vor der Vernichtung bewahrt und es zu einer ernst zu nehmenden Kraft werden lassen. Die Kurden sehen keinen Grund, ihm den Rücken zu kehren«, so Karabulut. Für die junge PKK-Anhängerin sei Öcalan mittlerweile »zu einer nicht mehr mit menschlichen Maßstäben fassbaren, nahezu mystischen Gestalt entrückt«, schreibt der Autor Nick Brauns. Dies befremdet umso mehr, als dass es für solchen Herrscherkult weder Platz noch Notwendigkeit geben dürfte, wenn man die libertären Elemente seiner Leit-ideologie ernst nimmt.

Viel gegen die PKK vorzubringen hat indes auch der deutsche Staat nicht mehr. Für die Verstrickung der PKK in kriminelle oder mafiöse Geschäfte in Europa gibt es keine Belege – das hat das Bundesinnenministerium Ende November 2014 auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion erklärt. Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass die PKK in Deutschland heute 13.000 Mitglieder hat. Neben Kundgebungen, kulturellen und politischen Veranstaltungen sowie politischer Lobbyarbeit bestehen ihre Aktivitäten vor allem aus Rekrutierung und Finanzbeschaffung. Seit Herbst 2013 ruft die PKK offenbar verstärkt dazu auf, auch in Syrien zu kämpfen. Im Grenzgebiet der Türkei und des Iraks würden die Männer und Frauen, so heißt es in einem internen Papier der Sicherheitsbehörden, militärisch ausgebildet, um für den PKK-Ableger YPG in Syrien zu kämpfen. Mindestens 50 Männer und Frauen seien bereits dorthin ausgereist. Man muss die Frage stellen, ob Menschen gut beraten sind, in einen solchen Krieg zu ziehen. Doch mit der Anwerbung jugendlicher Dschihadisten aus Deutschland für den verbrecherischen IS ist eine mögliche Rekrutierung für die YPG nicht zu vergleichen. Niemand zieht die Legitimität des Kampfes gegen die Dschihadisten in Zweifel, die Bundesrepublik unterstützt ihn sogar hochoffiziell.

Christian Jakob

Der Autor ist Reporter bei der tageszeitung in Berlin.