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Warum Repräsentation wünschenswert und zwiespältig zugleich ist 

Bis in die 1990er Jahre gab es kaum Möglichkeiten, schwul-lesbische Lebensentwürfe kennenzulernen. Vom Internet hatte kaum jemand gehört, es gab kein It Gets Better Project, kein Lesarion oder GayRomeo, keine Serien wie Druck oder All You Need und erst recht keine Streamingdienste, die immer diverseres Programm anbieten müssen, um Kund:innen zu akquirieren. Kabelfernsehen – mit vielleicht vier zusätzlichen Sendern – war the newest latest. Wer bis Anfang der Neunziger pubertierte, hat so gut wie ausschließlich heterosexuelle Geschichten erzählt bekommen. Schwulsein war in der Öffentlichkeit mit AIDS verknüpft und Lesben waren weitestgehend inexistent. 

Heutzutage hätten Mädchen Nummer eins und ich vermutlich eine ganz normale Jugendliebe, aber damals küssten wir nur, wenn wir sehr betrunken waren – also tranken wir exzessiv. Wir haben Hans Meiser – in Spitzenzeiten immerhin 40 Prozent Marktanteil am Nachmittag – oder Ilona aufgenommen, wenn in der Fernsehzeitschrift ein Gay-Thema angekündigt wurde. Doch was hatten BDSM-Schwule, deren ausschweifendes Sexualleben im Privatfernsehen ausgeschlachtet wird, lesbische Frauen, denen ihr Kind weggenommen wurde, mit meinem Leben in der Oberstufe eines konservativen Gymnasiums zu tun? Wir nahmen, was wir kriegen konnten, Daily Talks, den langweiligen Carsten Flöter und Hella von Sinnen, die wir liebten. Sie war die einzige öffentliche Lesbe in Deutschland, die wir kannten. Als Maren Kroymann sich 1993 outete, waren Publikum wie Feuilleton entsetzt. Ausgerechnet eine lesbische Schauspielerin hatte die Pfarrersfrau in der sehr populären Serie O Gott, Herr Pfarrer gespielt – das konnte doch nicht sein. Rollenangebote blieben für viele Jahre aus. Offenbar wollte niemand eine lesbische Frau in einer heterosexuellen Rolle besetzen. Eigentlich Wahnsinn, wie wenig Rolle und reale Person in der Vorstellung getrennt wurden. 

Heute gibt es diese Vorstellung immer noch, allerdings unter vermeintlich progressiveren, queeren Vorzeichen. Heterosexuelle Schauspielerinnen sollen nicht für lesbische Charaktere besetzt werden und Rollen mit Transgender-Geschichte sollen ausschließlich von transidentitären Personen gespielt werden. Unlängst wurde James Cordon Homophobie vorgeworfen, weil er als Nicht-Schwuler, die Rolle des Barry Glickman im Film Prom stereotyp spiele. Leute, es ist ein campiges Musical, natürlich ist so ein Film voller Stereotype, aber wäre er weniger stereotyp, wenn der Schauspieler selbst eine schwule Drama-Queen wäre?  

Statt (vermeintlich) heterosexuelle Personen dafür zu kritisieren, dass sie queere Menschen spielen, also Präsentation einzelner queerer Menschen zu fordern, sollte vielmehr queere Repräsentation gefordert werden. Dicke Frauen als Love-Interest, Transpersonen, die erfolgreich und glücklich sind, hedonistische Lesben, langweilige Drag-Queens, heterosexuelle Paare, die mit Monogamie-Monotonie kämpfen und einen einvernehmlichen Weg zur Offenheit finden – solche Geschichten fehlen und würden viel mehr zur Repräsentation von queerem Leben beitragen als mehr queere Schauspieler:innen in queeren Rollen.  

Es ist die einfachere Sicht, dass sexuelle Identität von Rolle und Schauspieler:in nicht übereinstimmen müssen. Doch – und das darf nicht übersehen werden – es ist ein valides Gegenargument, dass Trans-Schauspieler:innen wenigstens die paar wenigen Transrollen erhalten sollten, da sie – außerhalb von Kleinkunst – sehr wenige Rollen angeboten bekommen. Tatsächlich wagen Produktionen nach wie vor so gut wie nie eine Trans-Schauspieler:in als Cis-Rolle zu besetzen. Das ist übrigens auch das einzige Argument, das die #ActOut-Schauspieler:innen gelten lassen. Unter diesem Hashtag outeten sich im Februar 2021 185 Schauspieler:innen als lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter oder non-binär und forderten in einem kurzen Manifest mehr Sichtbarkeit auf, neben und hinter der Leinwand. In mehreren Interviews wurde vehement von den Vertreter:innen verneint, dass queere Rollen ausschließlich von queeren Schauspieler:innen gespielt werden können. Es braucht natürlich nicht die »eigene« Erfahrung, um eine Rolle zu spielen. Es braucht Handwerk und Können, um andere zu überzeugen, man sei Malermeisterin, ein präsenter Vater oder ein:e Chirurg:in. 

Jetzt können Theoretiker:innen kommen und fragen: Kultur-Schmultur, welche Relevanz haben denn Medien? Wer so argumentiert, gehört sicher keiner diskriminierten Gruppe an und kennt nicht das Gefühl, sich nirgendwo repräsentiert zu sehen. Wenn ein Mann gewohnt ist, immer überall und in der Mehrheit zu sein, und im Zentrum jedes Films zu stehen, dann ist es leider außerhalb seines Erfahrungshorizonts, »mitgemeint« zu werden. Da nutzt es auch nichts, »mit Schwestern aufgewachsen« zu sein. So lange queere Stimmen – und gleiches gilt zum Beispiel für migrantische Stimmen und nach wie vor für weibliche – in der Öffentlichkeit dermaßen unterrepräsentiert sind und als andere Stimme hervorgehoben werden (»Was sagen Sie als Lesbe dazu?«), bleibt das Problem, dass ein Individuum für ein vermeintlich Ganzes angesehen wird. Scheitern ist unausweichlich. Wenn eine schwarze Person in eine Polit-Talkshow eingeladen wird, dann wird implizit und explizit davon ausgegangen, sie spräche für alle Schwarzen. Das ist der Grund, warum sich danach häufig viele Schwarze äußern, dass sie nicht mit der Meinung von XY übereinstimmen.  

Wenn sich die unvermeidlichen Wolfgangs (Bosbach und Kubicki) zu Wort melden, erwartet keine:r, sie sprächen für alle Männer oder gar im Namen des generischen Maskulinums für die Menschheit. Das ist jeder und jedem von vornherein klar. 

 

Token der Hoffnung 

Aus der Verletzung, jemanden aus den vermeintlich eigenen Reihen repräsentiert zu sehen, der/die dann aber eine andere als die eigene Meinung vertritt, entstehen viele der problematischen Diskussionen rund um Identität und Repräsentation. 

Zu oft meinen Menschen, die mehr inklusive oder diverse Stimmen fordern, damit, ihre eigene Meinung sollte mehr gehört werden. Dahinter steht die Überzeugung, aus einer vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit folge auch eine bestimmte Position. »Nicht ohne uns über uns« ist durchaus eine berechtigte Forderung. Sie kam zunächst in der Behindertenbewegung auf und meinte, dass keine rechtlichen, medizinischen und sozialen Entscheidungen getroffen werden sollen, ohne dass direkt Betroffene in den Prozess involviert werden. Es ist keine identitätspolitische Verblendung, wenn Repräsentation in öffentlichen Debatten gefordert wird. Eine Diskussion um die Situation von Alleinerziehenden, ohne auch nur einen Menschen mit Kind anzuhören, ist absurd. Aber zu erwarten, dass diese millionenfach geteilte Erfahrung zu identischen Ansichten führt, ist es ebenfalls. Kurz: Wer fordert, dass im politischen Diskurs mehr lesbische Stimmen vorkommen müssen, will vermutlich nicht mehr von Alice Weidel lesen, sehen oder hören. Dabei lebt diese dem Vernehmen nach mit ihrer Partnerin, die aus Sri Lanka nach Europa kam, und zwei Kindern zusammen, sozusagen in einer binationalen Regenbogenfamilie. Es ist enttäuschend, Transphobie schürend und Stereotype bestätigend, wenn die berühmteste Trans-Frau, Caitlyn Jenner, öffentlich die Teilnahme von Trans-Mädchen an Schulwettkämpfen gegen Cis-Mädchen als unfair bezeichnet. Sie bleibt aber dennoch eine der wenigen Stimmen, die Öffentlichkeit für Trans-Personen ermöglicht.  

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Forderung nach Repräsentation zumindest ambivalent ist. Eine Gruppenzugehörigkeit alleine steht erstmal für gar nichts. Der Unterschied zwischen »wer spricht« und »was wird gesagt« muss in der Diskussion um Repräsentation deutlich aufgezeigt werden. Wer zur Kritik an einer Position die Sprechposition heranzieht, muss dies begründen können. Ein lapidares »Schon wieder redet ein Cis-Mann« ist kein Argument, bei allem Verständnis für die Genervtheit. Wer die Trennung von Inhalt und Sprechendem nicht macht, wird sich in der misslichen Lage finden, Meinungen, die der eigenen konträr gegenüberstehen, verteidigen zu müssen – oder der Person die Sprechposition abzusprechen. Menschen mit Zugehörigkeit zu einer sogenannten Minderheit werden besonders, wenn sie konservativ sind, als Token diffamiert, weil sie vermeintlich die Seiten gewechselt hätten, ihnen wird Selbsthass oder Überassimilation vorgeworfen. Das passierte Anfang des Jahres Fatina Keilani, nachdem sie im Tagesspiegel den Kampf gegen Rassismus als Geschäftsmodell anprangerte, ebenso wie bereits vor 15 Jahren Ayaan Hirsi Ali für ihre scharfe Kritik am Frauenbild im Islam. Als die sogenannte Homo-Ehe diskutiert wurde, war der konservative Schwule voller internalisierter Homophobie ein gern gesehener Interviewpartner. Eine »authentische« Stimme, die sagt: Nein, so viel Gleichberechtigung brauchen wir nicht, die Ehe, das ist etwas Schützenswertes zwischen einem Mann und einer Frau. Der Vorwurf, es handele sich hier um Token-Schwule, greift zu kurz. Denn es gibt ja den Schwulen in der CDU oder die Lesbe in der AfD, man muss ihnen nicht die Sprechposition aberkennen, um dagegen zu argumentieren. 

Um an dieser Stelle dem nickenden antideutschen »Ich brauch keine Identitätler:innen« die Luft aus den Segeln zu nehmen: Das gilt für Euch genauso! Viel zu häufig wurden Jüdinnen oder Juden als Token in der deutschen Diskussion bezeichnet oder ihnen gar das Jüdisch-Sein aberkannt, Judith Butler und Moshe Zuckermann sind hierfür prominente Beispiele. Weil offenbar nur ein Jude ist, wer von nicht-jüdischen Deutschen als ausreichend israelfreundlich bewertet wird. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. 

 

Es ist kompliziert 

Trotz allem bleibt diverse Repräsentation eine notwendige Forderung. Zu erfahren, dass die sexuelle Identität keine Hürde ist, keine Grenze zu dem, was man werden oder erreichen kann, ist eine Erfahrung, die man nur durch Vorbilder erleben kann. Es schützt nicht vor Diskriminierungen im Alltag, sich in Büchern, in der Politik, im Sport oder sonst wo repräsentiert zu sehen, aber es eröffnet Möglichkeiten, die man vielleicht gerade im Angesicht systemischer Diskriminierung benötigt. Das sollten alle bedenken, die vorschnell jeden Wunsch nach einer Stimme im Diskurs mit Opferstatus abtun. So hilfreich es sein kann, Vorbilder zu sehen, bleibt es doch unsinnig zu behaupten, was nicht gezeigt werde, könne auch nicht gedacht werden. Dann gäbe es keinerlei Innovation, keine erste Frau, keine erste Schwarze, kein erster Migrant irgendwas. Aber wer nie vorkommt, hat es eben schwerer, sich ein gutes Leben vorzustellen. In diesem Sinne war ein schwuler Außenminister und ist ein schwuler Gesundheitsminister eine gute Erfahrung für Menschen, die viel Diskriminierung aufgrund ihrer Sexualität erfahren – ganz unabhängig von den Inhalten, für die sie stehen. Ein Meilenstein ist nur leider nicht mit Fortschritt gleichzusetzen. Klasse taucht zum Beispiel viel zu selten in der Diskussion um Identitätspolitik auf. Damit soll nicht die Verklärung der Arbeiterklasse zum revolutionären Subjekt herbeigewünscht werden. Aber es ist unerlässlich zu sehen, dass sogenannte Erfolge zum Beispiel in Bezug auf die Repräsentation von Frauen in der Regel Erfolge von verhältnismäßig Gutsituierten beschreiben. Mittelklasse-Frauen freuen sich über erfolgreiche Mittelklasse-Frauen, denn für sie werden tatsächlich Türen geöffnet – und eben zunächst ausschließlich für sie. Eine alleinerziehende Person mit prekären Jobs wird so schnell nicht Bundeskanzlerin werden. Und dennoch hat Angela Merkel eine Tür geöffnet, die auch dies wahrscheinlicher macht.  

Nicht vorzukommen bedeutet, sich beständig selbst inkludieren zu müssen, weil man nicht Teil der Norm ist. Es bedeutet zusätzlich, weniger Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen und sich selbst erfinden zu müssen. Manchmal hat das Nicht-Vorkommen aber durchaus Vorteile. Wer nicht mit reaktionären, kleinbürgerlichen Vorstellungen vom Glück einer Beziehung vollgestopft wurde, hat mehr Raum, Sex, Liebe, Partnerschaft für sich zu definieren. Andererseits: Wer ein Bild von Schwulsein nur verbunden mit AIDS und Sünde kennenlernt, wird kaum voller Lust auf das, was kommt, ins Leben starten. 

Leider ist rund um Repräsentation und Identität das meiste widersprüchlich und ambivalent. Es wäre viel erstrebenswerter, sich inhaltlich zu streiten, statt einander die Sprechposition abzuerkennen und die eigene Stimme hinter der Forderung nach Repräsentation zu verstecken. Aber solange nicht genauso selbstverständlich queere Schlagersängerinnen, Handballer und Akademikerinnen Teil der öffentlichen Diskussion sind, werden die Einzelnen immer für alle – für Sprecher:innen ihrer Gruppe – angesehen. Erst dann kann beendet werden, dass die Meinung zum Beispiel einer einzelnen Lesbe für alle Lesben stehen soll. Und dann kann es enden, dass andere enttäuscht oder verletzt sind, weil die repräsentierte queere Meinung nicht der eigenen entspricht. In Bezug auf Repräsentation sollte in allen Bereichen so wenig Heteronormativität wie möglich gefordert werden. Es bleibt also kompliziert. Der Diskussion würde es schon helfen, wenn alle Seiten die Ambivalenzen anerkennen.  

 

Susanne Fischer 

Die Autorin ist als Redakteurin der Phase 2 und queere, antideutsche Feministin geübt im Aushalten von Widersprüchen.