Weltmarktbeben (Teil 2)

Über die tieferliegenden Ursachen der aktuellen Finanzmarktkrise*

* Teil eins dieses Textes erschien in der vorherigen Ausgabe der Phase 2, Nummer 28.

Die durch den Immobiliencrash in den USA ausgelöste internationale Finanzmarktkrise wird von den meisten Beobachtern auf die »entfesselte Spekulation« zurückgeführt, die von »gierigen Heuschrecken« angefacht worden sei. Tatsächlich jedoch ist die Aufblähung des »fiktiven Kapitals« nicht Ursache, sondern Folgewirkung und Verlaufsform einer grundlegenden strukturellen Überakkumulationskrise, die mit dem Ende des Fordismus begonnen hat und seitdem durch das Ausweichen an die Finanzmärkte immer wieder aufgeschoben wurde. Diese Methode des Krisenaufschubs muss jedoch früher oder später an ihre Grenzen stoßen.

Weiterer Krisenaufschub...

Eine sichere Prognose darüber, welchen weiteren Verlauf der Krisenprozess nehmen wird, lässt sich nicht abgeben. Momentan ist unklar, ob die Zentralbanken und Regierungen mit vereinten Kräften den Megacrash an den Finanzmärkten samt seinen verheerenden Auswirkungen auf die gesamte Welt noch einmal werden aufschieben können. Sollte es gelingen, ginge dies jedoch nur über das Aufblasen einer neuen Finanzblase. Das wäre allerdings der blanke Hohn auf all diejenigen, die in der Kontrolle der Finanzmärkte die Lösung des Problems sehen. Zwar wird diese Forderung inzwischen von allen Seiten aufgegriffen, auch von bisherigen neoliberalen Hardlinern, frei nach dem Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern. Doch in der Praxis wird der staatliche Eingriff auf das genaue Gegenteil hinauslaufen: im Wesentlichen darauf, die direkten Schäden zu begrenzen, die sich aus dem Platzen der Immobilienblase ergeben. Es ist bezeichnend, dass selbst der sozialdemokratische Populist Lafontaine dafür plädiert, kriselnde Banken staatlicherseits aufzufangen, weil er weiß, dass ein Zusammenbruch des Bankensystems verheerende Folgen für die gesamte Gesellschaft hätte.Lafontaine hat Josef Ackermann ironisch die Mitgliedschaft in der Linkspartei angetragen, weil dieser angesichts der Finanzkrise einen staatlichen Eingriff in das Bankensystem forderte (Netzeitung vom 20. März 2008). Tatsächlich verweist das aber nur darauf, dass in der Krisenverwaltung letztlich alle Parteien an einem Strang ziehen. Natürlich schiebt er pflichtschuldig die Forderung hinterher, es müssten danach die Banken und Finanzmarktakteure aber besser kontrolliert werden. Doch ist das eine bloße Floskel, denn die faulen Kredite der Gegenwart können unter den gegebenen Umständen – wenn überhaupt – nur durch zukünftige Finanzmarktgewinne kompensiert werden. Dabei macht es dann keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Finanzmarktakteur staatlich oder privat ist, denn beide unterliegen gleichermaßen dem Zwang, »ihr« Kapital gewinnbringend anzulegen, und das geht unter den Bedingungen permanenter Überakkumulation nur in der Sphäre des Kredits und der SpekulationDeshalb ist es auch lächerlich, wenn nun den Landesbanken ihre Verluste aus der Immobilienspekulation vorgeworfen werden. Sie haben nur das gemacht, was im Boom jeder von ihnen erwartete: »ihr« Geld möglichst gewinnbringend anzulegen., weil die Spielräume für eine realökonomisch fundierte Kapitalverwertung beschränkt bleiben. Egal ob man diesen Zusammenhang nun erkennt oder nicht, in der Praxis setzt er sich durch. Deshalb wird den Regierungen und Zentralbanken gar nichts anderes übrig bleiben, als die monetären Schleusen wieder weit zu öffnen. US-Regierung und Fed fahren ja bereits diesen Kurs.Allerdings zeichnet sich auch ein Interessenkonflikt zwischen den USA und der EU ab, der die Krisendynamik möglicherweise beschleunigen könnte. Während die USA in gewohnter Weise die Zinsen herunterprügeln, stellen die europäischen Regierungen und die EZB die Inflationsbekämpfung in den Vordergrund und weigern sich die Zinsen abzusenken.

Grundsätzlich gilt natürlich immer, dass Politik in ihrem Handeln durch den Zwang begrenzt wird, die kapitalistische Funktionslogik als solche nicht antasten zu dürfen. Ihrem Wesen nach bleibt jene auf die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten innerhalb dieser Logik beschränkt. Allerdings verändern sich die politischen Spielräume im geschichtlichen Verlauf. Sie werden geprägt und eingeschränkt durch einen historisch spezifischen Möglichkeitsraum, der seinerseits von der blinden kapitalistischen Entwicklungsdynamik abhängt. Innerhalb dieses Möglichkeitsraums sind politische Entscheidungen und Weichenstellungen nicht determiniert, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, wie gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, internationalen Machtkonstellationen oder dem Konkurrenzgefälle am Weltmarkt; der mit dem Möglichkeitsraum gesetzte Rahmen jedoch liegt außerhalb des Zugriffs der Politik. Das gilt auch für den heute häufig verklärten Fordismus. Trotz des relativ großen Regulierungspotentials in dieser Epoche hat die Politik den fordistischen Boom als solchen genauso wenig erzeugt, wie sie in der Lage war, sein Ende zu verhindern. Allerdings konnte sie bis zu einem gewissen Grad seine innere Verlaufsform beeinflussen und die vor allem in den Metropolen vorhandenen Verteilungsspielräume für den Aufbau einer ausgedehnten gesellschaftlichen Infrastruktur nutzen. In der Epoche der krisenkapitalistischen Globalisierung bietet sich ein spiegelverkehrtes Bild. Die Politik kann dem fiktiven Kapital nicht substantiell zu Leibe rücken, denn die beständige Aufblähung der Kredit- und Spekulationsblase ist Voraussetzung für den prekären Krisenaufschub und bestimmt daher auch die Spielräume und Grenzen ihres eigenen Handelns. Insofern muss sie alles tun, um diese Voraussetzung möglichst lange zu sichern, und dazu gehört neben geldpolitischen Maßnahmen u.a. auch der fortschreitende Raubbau an den »öffentlichen Gütern«, die ins Feuer der privaten Verwertung geworfen werden, um die kapitalistische Maschine noch eine Weile am Laufen zu halten.Zur Analyse dieses Mechanismus vgl. Ernst Lohoff, Out of Area – Out of Control. in: Streifzüge Nr. 31 und 32, Wien 2004 (www.balzix.de/e-lohoff_out-of-area_str-04-31.html).

Völlig außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten von Politik liegt es jedoch, die kapitalistische Krisendynamik als solche zu stoppen. Vielmehr trägt sie durch ihre Maßnahmen zu einer beständigen Reproduktion der dem Krisenprozess zugrundeliegenden Widersprüche auf immer höherem Niveau bei. Während die Masse an fiktivem Kapital, das vor der Entwertung geschützt werden muss, exponentiell anwächst (wie ein Blick auf das Wachstum der Finanzmärkte zeigt), steigt mit jeder Stufe des Krisenaufschubs der Druck auf die Gesellschaft und die große Masse der Bevölkerung, die gezwungen ist, sich unter immer prekäreren Bedingungen zu verkaufen. Dementsprechend werden die gesellschaftlichen Kosten einer erneuten Vertagung des großen Finanzkrachs erheblich sein. Zum einen ist mit einem gehörigen konjunkturellen Einbruch zu rechnen, der im Gegensatz zum aktuellen »Aufschwung« mit Sicherheit »unten ankommen« wird. Zum anderen wird die Aufblähung der Geldmenge voraussichtlich eine zusätzliche Beschleunigung der Inflation und damit eine weitere Entwertung der ohnehin schon ständig schrumpfenden Massenkaufkraft bewirken. Und schließlich wird sich die nächste Spekulationswelle vermutlich auf Rohstoffe, Nahrungsmittel und Agrartreibstoffe beziehen und deshalb ganz unmittelbar katastrophale Konsequenzen für weite Teile der Weltbevölkerung haben. Schon die horrenden Preissprünge bei Nahrungsmitteln in den letzten beiden Jahren sind zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass immer mehr institutionelle Anleger ihr Kapital in die Warenterminbörsen lenken. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, ist eine regelrechte Preisexplosion, die den Hunger in der Welt vervielfacht, unvermeidliche Folge.

Nun wäre zwar auch hier die Aufblähung des fiktiven Kapitals nicht eigentliche Ursache der Katastrophe, doch würde sie (wie schon im Fall der Privatisierungswelle) als Vermittlungsinstanz und Transmissionsriemen des Krisenprozesses und der ihm inhärenten Ausschluss- und Prekarisierungstendenz fungieren. Die Gefahr ist daher groß, dass sich der dadurch erzeugte Unmut wieder nur gegen das Feindbild eines »gierigen« Finanzkapitals richtet, dem die Schuld an der ganzen Misere zugeschoben wird. Umso wichtiger bleibt es, gegen diese invertierte »Kapitalismuskritik« mit ihrer offenen Flanke zum Antisemitismus Position zu beziehen. Das aber setzt neben der notwendigen Ideologiekritik auch eine fundierte Krisenanalyse voraus, die der verkehrten Wahrnehmung des kapitalistischen Funktionszusammenhangs den Boden entzieht. Freilich sollen damit die Finanzmärkte und die Spekulation nicht von der Kritik ausgenommen werden. Doch müssen sie stets als Teilmomente der fundamentalen kapitalistischen Krise verstanden werden, die als Gesamtprozess auf eine breitflächige Zerstörung der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen hinausläuft.

Diese Kritik ist auch gegen die teils nostalgischen, teils populistischen Konzepte zur Wiederbelebung der keynesianischen Wachstums- und Regulationspolitik zu richten. Im Grunde wissen auch die Propagandisten dieser Konzepte selbst, dass es dafür unter den gegebenen Bedingungen keinerlei reale Spielräume mehr gibt. Denn das beweist sich regelmäßig dort, wo »linke« Parteien mit entsprechenden Programmen an die Regierung kommen und dann genau das Gegenteil des Versprochenen in die Tat umsetzen; das gilt für die Berliner Stadtregierung nicht anders als für die verflossene »Mitte-Links-Koalition« in Italien oder etwa die Lula-Regierung in Brasilien. Verrückterweise ist auch das Wählerpublikum großenteils nicht einfach leichtgläubig, es wird nicht »betrogen«, sondern will mangels anderer Perspektiven daran glauben, dass eine Rückkehr zum keynesianischen Sozialstaat der Nachkriegszeit noch einmal möglich sein soll, obwohl es auf einer anderen Bewusstseinsebene durchaus weiß, dass dies nicht mehr geht. Das macht im Kern die schizophrene Stimmungslage aus, die sich in der Bundesrepublik etwa in einer breiten Zustimmung für klassische sozialdemokratische Forderungen (allgemeiner Mindestlohn, keine Bahnprivatisierung etc.) und gleichzeitig hohen Sympathiewerten für die Merkel-Regierung äußert. Das Problematische an dieser Stimmung ist, dass sie in ihrem Schwanken zwischen immanent uneinlösbaren Wünschen und einer unkritischen Akzeptanz der kapitalistischen Strukturlogik höchst anfällig für die Identifikation von Sündenböcken ist, seien es nun die Hedgefonds, die US-Regierung, die Großkonzerne oder – in letzter wahnhafter Konsequenz – »die Juden«.

Es mag paradox klingen, aber gerade wenn man sich nicht der »Realpolitik« und ihrem Sachzwangcredo ausliefern will, ist es unerlässlich, die Grenzen der Politik in der gegenwärtigen krisenkapitalistischen Periode deutlich zu benennen. Nicht, um sie anzuerkennen, sondern als notwendige Orientierung für soziale Bewegungen und jene Teile der Gewerkschaften, die sich gegen den systematischen sozialen Raubbau, die fortschreitende Inwertsetzung aller Lebensbereiche, die zunehmende Prekarisierung sowie die damit verbundene staatliche Kontrolle und Repression zur Wehr setzen. Lassen sie sich auf illusorische politische Perspektiven festlegen und in die Parteipolitik einspannen, bedeutet das nichts anderes als ihre Neutralisierung.So haben sich große Teile der italienischen Anti-Globalisierungsbewegung und Sozialforen in die »Rifondazione Comunista« einbinden lassen und sind dadurch dazu gezwungen worden, die Prodi-Regierung zumindest indirekt zu unterstützen. Nun stehen sie vor einem politischen Scherbenhaufen. Konzentrieren sie sich hingegen darauf, ihre Kämpfe über die Grenzen partikularer Interessen, fragmentierter Lebensverhältnisse und diversifizierter Identitäten hinweg zu verbinden, könnte es gelingen, die durch den Krisendruck vorangetriebene Entsolidarisierung zu überwinden und eine gesellschaftliche Gegenmacht zu formieren, die sich der neoliberalen Abriss- und Ausschlusspolitik erfolgreich entgegenstellt und zugleich eine Überwindung der kapitalistischen Logik wieder in den Bereich des Möglichen rückt.

... oder Weltwirtschaftskrise?

Sollte allerdings die Politik des neuerlichen Krisenaufschubs scheitern, droht eine Weltwirtschaftskrise gewaltigen Ausmaßes, in der sich das in dreißig Jahren aufgestaute Krisenpotential entlädt. Massenhafte Unternehmens- und Bankenzusammenbrüche, vermutlich begleitet von einem gewaltigen Inflationsschub, wären die unmittelbare Folge. Es braucht keine große Phantasie, um sich die verheerenden Auswirkungen dieser Mega-Stagflation auf Staatsfinanzen, Sozialsysteme und die Lebensbedingungen der großen Bevölkerungsmehrheit auszumalen. Durchaus wahrscheinlich ist, dass unter diesen Bedingungen die Ideologie einer national-populistischen Krisenverwaltung, wie sie ja schon lange nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums propagiert wird, an Zuspruch gewinnen wird. Wenn etwa der Publizist Jürgen Elsässer (derzeit bei der Zeitung Neues Deutschland) zur »nationalen Volksfront« gegen das globalisierte Kapital und vor allem gegen das Finanzkapital (das er – wen wundert's – vorwiegend in den USA verortet) aufruft, dann mag das momentan noch etwas überdreht klingen. Doch steht es für eine Tendenz, die auf aggressive, nationalistische Abschottung nach außen und autoritäre Disziplinierung nach innen bei gleichzeitiger Mobilisierung antisemitischer Affekte hinausläuft. Freilich ist selbst unter Aspekten bloßer Krisenverwaltung angesichts der ausgeprägten transnationalen Wirtschaftsverflechtungen eine Rückkehr zum weitgehend abgegrenzten Nationalstaat kaum denkbar. Wahrscheinlicher ist ein Zerfall der Weltwirtschaft in kontinentale Blöcke, ein Szenario, das in den politischen Machtapparaten und Think Tanks schon seit Längerem durchgespielt wird. Ein starker Triebmechanismus in diese Richtung dürfte der absehbare Absturz des US-Dollars und der damit einhergehende Verlust seiner Weltgeldfunktion sein.In Wirtschaftskreisen wird mittlerweile sogar die Rückkehr zum Goldstandard wieder ernsthaft diskutiert, was u.a. auf eine völlige Entwertung der in den letzten Jahrzehnten aufgehäuften Dollarforderungen hinausliefe (vgl. etwa Wirtschaftswoche vom 18. Februar 2008, 134).(7)

Eine Krisenlösung im eigentlichen Sinne des Wortes stellt ein solches mögliches Szenario allerdings auch nicht dar, sondern nur eine Form der Notstandsverwaltung. Keinesfalls hätte nämlich der Entwertungsschub den Charakter einer »Reinigungskrise«, in der durch das Hinwegfegen von Überkapazitäten und faulen Krediten die Grundlage für einen neuen selbsttragenden Akkumulationsschub geschaffen würde. Denn die eigentliche Ursache der Krise, die Verdrängung lebendiger Arbeitskraft aus der unmittelbaren Produktion durch die Verlagerung der Produktivkraft auf die Ebene des allgemeinen gesellschaftlichen Wissenskomplexes und die damit einhergehende Untergrabung der Wertproduktion, wäre ja nicht beseitigt. Auch weiterhin müsste jede Produktion auf dem durch die neuen I+K-Technologien gesetzten Produktivitätsniveau ansetzen oder sich an diesem messen lassen, während gleichzeitig der Produktivitätswettlauf weiterginge. Auf niedrigerem Niveau von Wertproduktion würde sich also die Situation permanenter Überakkumulation sofort wiederherstellen, einschließlich des Zwangs zur erneuten Aufblähung des fiktiven Kapitals. Somit käme es zu einer Reproduktion der Widersprüche des bisherigen Krisenverlaufs unter erheblich verschärften ökonomischen und sozialen Bedingungen. Die Frage wird dann sein, ob es gelingt, aus dem Widerstand gegen die Schwerkraft des Krisenprozesses heraus eine transnationale Emanzipationsbewegung zu entwickeln, die eine Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik zum praktischen Programm erhebt.

NORBERT TRENKLE

Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift krisis.