Wem Auschwitz gehört

Imre Kertész, Stanley Milgram und der Gebrauch der Geschichte

Die Bücher der Überlebenden des Holocaust zu lesen, zwingt zur Auseinandersetzung, weil sie unmittelbar von deren Erfahrungen berichten, die oftmals verstörend wirken. Allgemein habe ich immer wieder den Eindruck, dass die Bücher der Überlebenden doch eher unbekannt sind oder dass sie manches Mal Darstellungsweisen benutzen, die dem theoretischen Denken vehement Steine in den Weg legen. Eine Einschränkung muss ich hier machen. Ich habe für diesen Text nur Essays von Imre Kertész verwendet, da er in ihnen sein Denken und seine Beweggründe für das Schreiben seiner Bücher offenlegt. Eine Untersuchung des literarischen Werkes ist schwierig und muss von anderen geleistet werden. Als Ausgangspunkt für die Literatur von Kertész vielleicht: Brigitta E. Simbürger, Faktizität und Fiktionalität. Autobiographische Schriften zur Shoah, Berlin 2009. Alle Essays sind enthalten in: Imre Kertész, Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt a.M. 2004.

 Klaus Theweleit hatte als einen wichtigen Grund für seine Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten benannt, dass die Pervertierung des Politischen in Deutschland seiner Meinung nach von keinem Punkt besser beschreibbar ist, als vom Punkt des Nicht-Sprechens aus. Das Medium des Öffentlichen, das Politische, bedient sich der toten, der formelhaftesten Sprache, ganz abgesehen von den ›Inhalten‹. »Als jemand, der durch den Verlust des eigenen Sprechens zu Sprache gekommen ist, zu mehreren Sprachen, Fremdsprachen, entfremdet dem vorherrschenden O-Ton um einen herum, zum Wiedererlernen des Sprechens gekommen unter Einschluss des Sprechens hier Gestorbener und Getöteter, als ein solcher vielleicht kann man sich aus der Position des ›Ich-gehöre-überhaupt-keiner-Nation-an‹ der Wahrnehmung wieder annähern.« Klaus Theweleit, Das Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst, München 1995, 155. Das scheint mir eine vertretbare Haltung zu sein und kann noch ergänzt werden durch das Hörbarmachen der Stimmen derer, die hier gestorben sind und/oder gequält wurden. »Und wenn die Stimmen der Toten, wenn das Sprechen der Toten hierher nicht zurückkehren darf, wird dies ein barbarisches Land bleiben oder wieder werden.« Ebd., 157. Damit ist nicht gemeint, »den eigenen Frieden mit Deutschland« zu machen, sondern das Bemühen, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, dass sich diese Dinge nicht wiederholen. Das trifft sich auch mit Überlegungen von Kertész, der als einen wichtigen Unterschied zwischen sich und anderen darin sieht, kein theoretischer sondern ein künstlerischer Intellektueller, mehr noch ein »überflüssiger Intellektueller« zu sein. So jedenfalls der Titel seines Essays.

Überleben

»Diese Situation verdiente an sich nicht allzu viel Beachtung. Es ist die Situation eines Überlebenden, der versucht hat, sein Überleben zu überleben; mehr noch: zu deuten, der sich – zur letzten Generation der Überlebenden gehörend – darüber im klaren ist, dass mit dem Dahinschwinden seiner Generation zugleich die lebendige Erinnerung an den Holocaust aus der Welt schwindet. Sein Dasein ist eine Panne, ein purer Zufall, der ständiger Rechtfertigung bedarf, obgleich er tatsächlich nicht zu rechtfertigen ist.« Imre Kertész, Die exilierte Sprache, in: Ders.: Die exilierte Sprache, 206–221, Zitat: 86.

 Die Figur des Überlebenden ist zentral in der Frage, was Auschwitz für Kertész bedeutet und welche Funktion die Erinnerung und das (Be)Schreiben der, besser seiner (Lebens-) Geschichte hat. Aber wen interessieren die wirklichen Überlebenden und die wahren Probleme des Überlebens? »Das Geschrei der Poeten, der Anwälte, der Philosophen und Priester wird über uns hinwegtönen« zitiert Ebd., 211. Kertész Tadeusz Borowski, ebenfalls ein Überlebender. An anderer Stelle findet sich bei Kertész, dass die Rollenunsicherheit des »gewöhnlichen Überlebenden« daher rührt, dass er all das, was im Nachhinein als unbegreiflich angesehen wird, zur gegebenen Zeit sehr wohl begreifen musste, denn eben das war der Preis des Überlebens. Wenn das Ganze unlogisch war, jeder Augenblick, jeder Tag erforderte eine unerbittlich exakte Logik: Der Überlebende musste begreifen, um zu überleben; das heißt, er musste begreifen, was er überlebte. Ders., Das glücklose Jahrhundert, in: Ders., Die exilierte Sprache, 110–132, Zitat: 117. Die von ihm geschriebene Prosa ist der Versuch, »sich zumindest einmal im Leben vorzustellen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist. […] Wenn wir diesem Bemühen Identifikation bis zum Äußersten gegangen sind und dort, am äußersten Punkt, unter Anspannung all unserer Kräfte zu dem Ergebnis gelangt sind, dass wir nicht verstehen, dann, und erst dann, können wir behaupten, etwas von dieser Zeit zu verstehen – wir haben begriffen, dass sie nicht zu begreifen ist.« Ebd., 112.

 Seiner Ansicht nach wird die Tragödie des Judentums nicht beschädigt und auch nicht geschmälert, wenn wir den Holocaust heute, mehr als 60 Jahre danach, als Welterfahrung, als europäisches Trauma betrachten, schließlich hat sich Auschwitz nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern im Rahmen der westlichen Kultur, der westlichen Zivilisation, und diese Zivilisation ist ebenso Auschwitz-Überlebender wie einige zehn- oder hunderttausend über die ganze Welt verstreute Männer und Frauen, die noch die Flammen und der Krematorien gesehen und den Geruch des verbrannten Menschenfleischs eingeatmet haben. Ders., Die exilierte Sprache,2 16. Das Überleben ist nach Kertész eben nicht nur das persönliche Problem der Überlebenden, nicht die eigenartige unverstehbare Geschichte von ein oder zwei Generationen. Die »langen dunklen Schatten des Holocaust« legen sich viel mehr über die gesamte Zivilisation, in der er geschah und die mit der Last und den Folgen des Geschehenen weiterleben muss und zugleich einer der generellen Möglichkeiten des Menschen darstellt. Aufgeworfen ist damit die Frage, ob der Holocaust eine »vitale Frage der europäischen Zivilisation, des europäischen Bewusstseins ist« und dass er dies sein muss, wenn diese Zivilisation nicht zu einer »Pannen-Zivilisation« werden soll. Ders., Der Holocaust als Kultur, in: Ders., Die exilierte Sprache, 76–89, Zitat: 86.

 Diese Charakterisierung zeigt schon das vielschichtige Problem, was sich auftürmt, wenn über den Holocaust nachgedacht werden soll/nachgedacht wird. Bei Kertész spitzt sich das immer wieder auf die Frage zu: Was heißt Auschwitz? Und er beantwortet sie in einer kulturpessimistischen Weise, die, so hat es für mich den Anschein, nicht gern (?) gesehen wird. Der wohl schwärzeste Satz ist dabei dieser: »Vergessen wir nicht, dass man Auschwitz keineswegs wegen Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsunglück umschlug; auch ist seit Auschwitz nichts geschehen, was wir als Widerlegung von Auschwitz hätten begreifen können.« Ders., Ich – ein Anderer. Roman, Berlin 1998, 72.

Erinnerung

Eine entscheidende Frage ist die nach der Erinnerung an den Holocaust. Für Kertész ist etwas erschütternd Zweideutiges in der »Eifersucht«, mit der die Überlebenden auf dem alleinigen »geistigen Eigentumsrecht« am Holocaust bestehen, allerdings auch weil es so aussieht, als wäre ihnen ein einzigartiges, großes Geheimnis zugefallen. Als bewahrten sie einen unerhörten Schatz vor dem Verfall und – ganz besonders – vor mutwilliger Beschädigung. Ihn vor dem Verfall zu bewahren, liegt einzig bei ihnen, der Kraft ihrer Erinnerung. Doch wie sollen sie der Beschädigung, also der Aneignung durch andere, begegnen, wie der Verfälschung, den Manipulationen aller Art, und wie vor allem dem mächtigsten Gegner, der Vergänglichkeit?

 Ängstliche Blicke, so Kertész, kleben an jeder Zeile von Büchern über den Holocaust, an jedem Zentimeter Film, der den Holocaust erwähnt: Ist die Darstellung glaubwürdig, die Geschichte exakt, haben wir wirklich das gesagt, es so empfunden, stand der Kübel tatsächlich dort, in genau dieser Ecke der Baracke, waren der Hunger, der Zählappell, die Selektion wirklich so, und so weiter. »Doch was ist diese Versessenheit auf die peinlichen – und peinigenden – Details, statt dass wir diese schnellstens zu vergessen versuchen.« Ders., Wem gehört Auschwitz, in: Ders., Die exilierte Sprache, 147–155, Zitat: 147.

 Kertész verweist darauf, dass man in der Erinnerung Gefahr läuft, auf eine falsche Logik reinzufallen. Man sitzt behaglich und sicher am Endpunkt der Geschichte und »käut wohlgefällig den strahlenden Siegeszug wieder. Man begibt sich jedes Risikos, da ja jeder Schritt auf das Ziel hinführt und man sich völlig darauf verlassen kann: Man tut immer nur das Richtige, denn schließlich geht man ja auf das Ziel zu. Deshalb sitzt man im Zug nach Auschwitz, deshalb hat einen der selektierende Arzt in Birkenau auf die linke Seite gestoßen, deshalb haben einen in Buchenwald freundliche Hände unter den Leichen hervorgezogen und so weiter.« Ders., Dossier K. Eine Ermittlung, Hamburg 2006. Jede einmalige Geschichte ist nach Kertész Kitsch, weil sie sich dem Gesetzmäßigen entzieht. Jeder einzelne Überlebende zeugt von einer Betriebspanne. Nur die Toten haben recht, sonst niemand.

 Der Zwang des Erinnerns führt dazu, eine Art Genugtuung einzuschmuggeln, die als Balsam des Selbstmitleids, der Selbstglorifizierung als Opfer dienen, als Anschein von, wenn auch später, Solidarität, und sind nichts weiter als das Bemühen, die Welt von Auschwitz, von der Last des Holocaust zu befreien. Dabei ist ja bereits das Wort Holocaust eine Abstraktion, eine Stilisierung der brutaleren Wörter Vernichtungslager oder Endlösung. Es wird über den Holocaust geredet, seine Realität – in Kertész` Worten »der Alltag der Menschenvernichtung« – wird insbesondere den Opfern entwendet, zu einem moralisch-politischen Ritual. »Die wenigen, die ihre Existenz daransetzten, Zeugnis vom Holocaust zu geben, wussten genau, dass die Kontinuität ihres Lebens zerbrochen war, dass es für sie unmöglich war, ihr Leben, wenn ich so sagen darf, in der für sie gesellschaftlich gebotenen Weise fortzusetzen, ihre Erfahrungen in der Vor-Auschwitz-Sprache zu formulieren. Anstatt nach Vergessen zu trachten, nach der Wärme eines normalen Menschenlebens zu suchen, bauten sie ihre in den Vernichtungslagern vernichteten Persönlichkeiten aus den in diesen Lagern erworbenen Erfahrungen wieder auf: Sie wurden zum Medium von Auschwitz. Nur dass sie dadurch schon allzu bald der Unmöglichkeit des Überlebens gewahr wurden. Der Geist von Auschwitz, der sie als Gift durchsetzt hatte, die beflissene Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die vielen offenen Türen, durch die sie nicht eintreten konnten und durch sie einzutreten nicht lohnte, deckten das ihnen eingebrannte Urteil wie eine schwere, niemals verheilende Wunde wieder auf.« Ebd., 212. Kertész hat die Zeit nach 1945 in Ungarn in einem autoritären Regime gelebt und ist dort mit dem Thema Holocaust ebenso auf Ablehnung gestoßen. Doch hält Kertész den Selbstmord, den eine Reihe von Autoren des Westens begingen, für einen Hinweis, dass auch hier die Erfahrungen nur oberflächlich aufgegriffen wurden.

 Die Überlebenden müssen sich damit abfinden, Auschwitz entgleitet ihnen aus den mit dem Alter immer schwächer werdenden Händen. »Aber wem wird es gehören? Keine Frage: der nächsten Generation und dann den darauf folgenden – natürlich solange sie Anspruch darauf erheben.« Kertész, Wem gehört Auschwitz, 147. Und Kertész stellt sich die Frage: Was hinterlässt der Überlebende, was für ein geistiges Erbe? Hat er das menschliche Wissen mit seiner Leidensgeschichte bereichert? Oder nur Zeugnis abgelegt von der unvorstellbaren Erniedrigung des Menschen, in der keine Lehre steckt und die man besser möglichst rasch vergisst? »Ich selbst glaube das nicht. Ich bin unverändert der Meinung, der Holocaust ist ein Trauma der europäischen Zivilisation, und es wird zu einer Existenzfrage für diese Zivilisation werden, ob dieses Trauma in Form von Kultur oder Neurose, in konstruktiver oder destruktiver Form in den Gesellschaften Europas weiterlebt.« Ders., Die exilierte Sprache, 220.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Ich denke, mit Kertész lässt sich begreifen, warum die Geschichtsschreibung eher einem Mythos, nämlich dem der Darstellung als Zivilisationsbruch, anhängt. »Auschwitz« markiert dann die eindeutige Grenze zwischen Gut und Böse. Jeder weiß, was geschehen ist und das dies Unrecht und Menschenverachtung bedeutet. »Auschwitz« hat so auch eine geschlossene Struktur, mit Hilfe derer die Einzelheiten in eine abgeschlossene Geschichte eingefügt werden können. Der Gedanke des Zivilisationsbruchs führt leider auch dazu, Auschwitz als den Ausrutscher einer doch ansonsten geradlinigen Geschichte zu betrachten.

 »Nun soviel können wir vielleicht anmerken, zwar war Auschwitz möglich, aber die einzige Antwort auf dieses einzigartige Verbrechen, eine Katharsis, war nicht möglich. Und es hat sie eben die Realität unmöglich gemacht, die Auschwitz möglich gemacht hat, unsere tägliche Wirklichkeit, das Leben, das wir leben, das heißt, wie wir es leben.« Ders., Bilder einer Ausstellung, in: Ders., Die exilierte Sprache, 256–263, Zitat: 261. Für Kertész hat sich die Geschichtsbetrachtung – jedenfalls bis jetzt – als wenig geeignet erwiesen, Erklärungen zu liefern. Hat diese mit biblischen oder volkssprachlichen Begriffen, mit amtlichen Decknamen, vornehmlich aber mit bloßen Ortsnamen belegt statt die Ereignisse überhaupt zu fassen. Die von der Geschichte angehäuften Fakten sind wichtig, doch sie bleiben bloße Ermittlungsdatei, wenn die Geschichte sich dieser Fakten nicht zu bemächtigen vermag. »Und wir sehen, dass sie dazu nicht fähig ist, vielleicht, weil sie nicht über ein allgemeines Ordnungsprinzip, sagen wir es ruhig: eine Philosophie, verfügt.« Ders., Die Unvergänglichkeit der Lager, in: Ders., Die exilierte Sprache, 42–52, Zitat: 43.

 Dass der Faschismus nachlebt, so hatte Adorno geschrieben, die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelang, viel mehr zu einem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, wurde, rührt daher, dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Deshalb der Kulturpessimismus von Kertész, der oft in seinen Schriften zu finden ist. An dieser Stelle treten spezifische Gemeinsamkeiten im Denken von Adorno und Kertész zu Tage, die nicht unerwähnt bleiben sollen. »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1963, 146. Damit endet der Text von Adorno und dieser Satz ist nicht so weit entfernt von Kertész' Sicht, dass die Katharsis, das Innehalten bis heute nicht stattgefunden hat.

 Für Kertesz ist der Holocaust nur als eine nachträgliche Geschichte verstehbar, genauer als »Kunstwerk«. Doch Auschwitz als Kunstwerk? Einordnend dazu hat er gesagt, Auschwitz war leider keine Fiktion, ist nicht vorstellbar. Das ist eine so demütigende, unmenschliche Lebensform, dass man selbst als jemand, der das erlebt hat, staunt, wie man das ertragen konnte. Die physischen Schmerzen und Veränderungen vergehen; was aber bleibt, sind die Erinnerungen, die Brüche, die Erlebnisse, die sich zu einer Fiktion vermischen. Daraus kann dann ein Kunstwerk entstehen. »Ich denke, das ist das eigentliche Problem all derer, die heute noch – oder heute wieder – über den Holocaust zu reden gewillt sind. Das ist der Grund, warum er, je mehr man über ihn redet, desto weniger verständlich erscheint. Das ist der Grund, warum je mehr Holocaust Denkmäler entstehen, der Holocaust selbst um so weiter entrückt, historisiert wird.« Kertész, Die exilierte Sprache, 210.

Milgram

Und hier komme ich auf das Milgram-Experiment. Denn gerade dieses Experiment hatte gezeigt, dass es eben von allein keineswegs so eindeutig ist, wer zum Täter wird oder nicht. Das Milgram-Experiment in Kürze: Die Versuchspersonen wurden von einem Wissenschaftler gebeten, die Aussagen von Personen zu bewerten und bei falschen Aussagen mit Stromstößen zu bestrafen. Dabei gab es eine stufenweise Abfolge der Stromstöße von zunächst unbedenklichen hin zu lebensgefährdenden. Die zu bewertenden Personen waren allerdings nicht im gleichen Raum, waren für die Probanden nur zu hören. Der Versuchsleiter hatte als Autoritätsperson mittels Argumentation die Probanden bei Zweifeln zu motivieren, mit dem Experiment fortzufahren und die Stromstöße zu geben. Es lässt sich meines Erachtens nach auch eine Lesart finden, die sich sogar an das Konzept der autoritären Persönlichkeit des Instituts für Sozialforschung anlehnen lässt. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002. Wenngleich Bauman in seinem Buch diese Studie als kritikwürdig darstellt. (S. 168). Zygmut Bauman beschreibt unter anderem, dass die Nationalsozialisten zunächst darauf gehofft hatten, mit Pogromen und ähnlichen Gewaltexzessen, den Hass auf die Juden zu schüren. Sie vermochten damit jedoch keine breite Mehrheit zu gewinnen, provozierten eher Widerspruch oder Widerstand. Gelungen ist es ihnen dann schließlich mit der Entpersönlichung und dem Aufbau einer Distanz zwischen Juden und ›Normalbürgern‹, der ›deutschen Volksgemeinschaft‹ per Gesetz. »Um die ›Endlösung‹ organisieren und durchführen zu können, mussten die Nationalsozialisten dafür sorgen, dass die Juden als Objekte der bürokratischen Operation aus dem Umfeld des Alltagslebens beseitigt, aus dem Netz persönlicher Interaktion herausgeschnitten und einem Stereotyp zugeordnet wurden, dem Stereotyp der metaphysischen Juden. Die Juden verloren den Status des »Anderen«, dem unsere Verantwortung normalerweise Vielleicht sollte ich besser »idealerweise« sagen, denn es ist keineswegs »normal», sich für den Anderen als sozialphilosophische Kategorie, geschweige denn für den Fremden, einzusetzen. Der alltägliche Rassismus, Antisemitismus, Sexismus zeigt deutlich, dass die Frage der Hierarchien und der Gewalt eine offene ist, die jede Gesellschaft(-sordnung) zu lösen hat. Das könnte, ja müsste als die »Soziale Frage« auch permanent Gegenstand der Analyse und Gesellschaftskritik sein. Denn die Frage der Gewalt beginnt nicht bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern ist überall anzutreffen. Gerade deshalb sind die Differenzen so wichtig festzuhalten, um die persönliche Verantwortung jeder Person zu kennzeichnen und auch die verschiedenen Grade der Gewalt wahrzunehmen. gilt, und verloren damit jeglichen moralischen Schutz.« Bauman, Dialektik der Ordnung. Hilfreichstes Mittel zur Schaffung der Distanz war der Antisemitismus, der sich als spezifisch deutscher, als eliminatorischer Antisemitismus einer Volksgemeinschaft bezeichnen lässt. Klaus Theweleit wies darauf hin, dass allein mit dieser Charakterisierung nichts ausgesagt ist. »Man kapiert vom Nazi-Unwesen nichts, wenn man nicht begreift, dass ›die Deutschen‹ in der Gewissheit agierten, einen Abwehrkampf gegen das jüdisch Zersetzende zu führen. Sie agierten aus der Position eines Rechtsbewusstseins, als Wohltäter der europäisch-westlichen Menschheit, die sich schlicht verkannt fühlte seit Ende des I. Weltkrieges.« Klaus Theweleit, Männerphantasien, München/Zürich 2002, Band 2, 486. Er selbst hat an Hand der Freikorpsliteratur führender Nazis versucht zu zeigen, wie die deutsche Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte ›männliche soldatische Körper‹ produzierte, die zu diesen Verbrechen fähig waren. Der Terror hat sich gegen sehr spezielle Personen und Teile der Bevölkerung gerichtet. Der tradierte Antisemitismus ist zwar ein schweres Erbe, aber er hat, so Kertész, keineswegs genetische, sondern ausschließlich historische und historisch-psychologische Ursachen. Imre Kertész, Von der Freiheit der Selbstbestimmung, in: Ders., Die exilierte Sprache, 222–232, Zitat: 230. Der Antisemitismus des (19). Jahrhunderts konnte sich die »Endlösung« nicht vorstellen, schreibt Kertész. »So ist Auschwitz also auch nicht mit den herkömmlichen, archaischen, um nicht zu sagen: klassischen Begriffen des Antisemitismus erklärbar. Das ist es, was wir ganz genau begreifen müssen. [...] Der totalitäre Staat braucht, um Millionen von Juden zu ermorden, letzten Endes nicht so sehr Antisemiten, als vielmehr tüchtige Organisatoren.« Ders., Der Holocaust als Kultur, 83. Die nationalsozialistische Kategorisierung von »Untermenschen« ist meines Erachtens ebenfalls eine De-personalisationsstrategie. Zu begreifen ist die Struktur der Gesellschaft, die von ihr hervorgebrachten Persönlichkeiten und Individuen.

 Milgram und auch Bauman geht es darum, die sozialen Bedingungen zu zeigen, die gegeben sein müssen, damit Unmenschlichkeiten unhinterfragt begangen werden können. Es ist dabei zu sehen, dass in einer freien(?) Gesellschaft, wie in den Vereinigten Staaten der sechziger Jahre, Menschen dazu gebracht werden können, anderen Schäden zuzufügen, die sie töten können. Darauf hat auch Harald Welzer in seiner Untersuchung, warum »normale« BürgerInnen zu TäterInnen werden können, hingewiesen. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a.M. 2005. »Die Technik des Milgram-Experiments bestand je exakt darin, dass niemand aufgefordert wurde, jemand anderen um eines höheren Zieles wegen umzubringen, sondern dass die Versuchspersonen lediglich dazu veranlasst wurden, jeweils eine kleine Stufe nach der anderen auf der nach oben offenen Skala der Gegenmenschlichkeit heraufzusteigen. Und das Sprechendste war vielleicht, dass die Versuchspersonen selbst am meisten darüber überrascht und verzweifelt waren, dass sie ohne weiteres dazu in der Lage waren, Stufe um Stufe weiterzugehen.« Harald Welzer, Alles ist möglich. Gewalt geschieht in einem sozialen Rahmen, es gibt keine natürliche Grenze des Handelns, in: Frankfurter Rundschau vom 24. August 2005. Wesentlich ist auch die Frage nach der Autorität, die im Milgram-Experiment durch den Versuchsleiter repräsentiert wird. Das Beharren darauf, das Experiment fortzusetzen, kann als wichtiger Grund betrachtet werden. An dieser Stelle sind die Parallelen zur autoritären Persönlichkeit unverkennbar. Es geht eben nicht darum, alle pauschal zu diffamieren, sondern die Bedingungen zu analysieren, in denen solches möglich ist. Denn dies erwähnt Welzer auch: Verändert man die Versuchsanordnung, dann ergibt sich ein anderes Bild. Bei räumlicher Nähe sinkt die Quote der Gehorsamen und die Zahl der Verweigerer steigt. »Das ist das stärkste Argument dafür, dass die soziale Definition des Anderen tatsächlich zentral dafür ist, ob man sich für oder gegen die Unmenschlichkeit entscheidet; zugleich steht es gegen den anthropologischen Fehlschluss, dass Menschen eben so seien und das der Firnis der Zivilisation dünn sei und sich bei Wegfall zivilisatorische Schranken das archaische Erbe Bahn breche, das eben im Rauben, Vergewaltigen und Totschlagen bestehe. Gewalt ist sozial und historisch spezifisch, und zwar qualitativ wie quantitativ.« Ebd. Gewalt schafft zwar neue Wirklichkeiten und setzt bestimmte Dynamiken frei, doch eben nicht überall die gleichen, das nach Welzer der Fall sein müsste, wenn Gewalt eine anthropologische Konstante ist. Gewalt hat historische und sozial spezifische Formen und findet in ebenso spezifischen Kontexten statt und unterliegt im Fortgang der Gewalt selbst der Veränderung. Ebd. Es sieht so aus, als wäre die ständige (Re-)Produktion von Hierarchien eine Konstante der Ermöglichung von Unmenschlichkeit. Für die Analyse gilt es, die sozialen Bedingungen zu untersuchen, die dies ermöglichen und endlich solche zu schaffen, die Gewalt verhindern.

 Unmenschlichkeit ist eine Frage der sozialen Beziehungen und mit zunehmender Rationalisierung und technischer Perfektion steigt auch die Effizienz potentieller, sozial erzeugter Unmenschlichkeit. Grausamkeit kann so von Menschen ausgehen, die »nur ihre Pflicht erfüllen wollen«. Sie hängt also ab von den alltäglichen Strukturen von Macht und Gehorsam. Bauman, Dialektik der Ordnung, 168f. Wie Bauman zeigt, trifft dies auf den nationalsozialistischen Umgang mit den Juden zu. »Der Holocaust geht nicht auf das Konto eines rasenden Mobs, sondern wurde von Uniformierten verübt, die Befehle und Anweisungen diszipliniert und gewissenhaft ausführten.« Ebd., 166. Die Frage wäre dann, warum so wenige Widerstand leisteten. Und das lässt sich auch nur beantworten, wenn hier die Analyse beginnt.

Mündigkeit und Verantwortung

Als eine Lehre über den autoritären Charakter hielt Adorno fest: »Amerikanische Charakterstudien haben dargetan, dass jene Charakterstruktur gar nicht so sehr mit politisch-ökonomischen Kriterien zusammengeht. Vielmehr definieren sie Züge wie ein Denken nach den Dimensionen Macht-Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung.« Ebd., 133. Für mich ist dies gleichzeitig ein deutlicher Hinweis auf die gesamtgesellschaftliche Problematik des autoritären Charakters. Auch das ist meines Erachtens bis jetzt in vielen Artikeln weniger deutlich geworden: Die Anfälligkeit der Eliten für autoritäre Ideologien. Ich denke, dies lässt sich mit den Ergebnissen der Studie von Milgram vereinbaren, weil es um die Fragen der Machtposition und der Selbstbesinnung ging. Bei Milgram durch die Wissenschaft ‚als Autorität' und die Fähigkeit, sich in die Position der zu beurteilenden Personen in Relation zum Leiter des Experiments zu setzen, beim Nationalsozialismus, um die Fähigkeit Unrecht zu empfinden, wenn Nachbarn als »Volksfeinde« oder »Untermenschen« bezeichnet und zur »Vernichtung« deportiert wurden. »Sie identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt«, schreibt Adorno. Die Identifikation mit großen Kollektiven als Ersatz für die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und die dadurch beschriebene gesellschaftlich erzeugte Identität sind ebenfalls verantwortlich für die Verbrechen der »Deutschen«. Spezifisch deutsch wäre dann aber die Auflösung der Angst »allein zu sein« im völkischen Kollektiv und der Abwehr alles »Nichtdeutschen« mit Hilfe der Ideologie des Antisemitismus. Der Faschismus kann nach Adorno nicht allein aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch deren Organisation hält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermögen, genauer noch zur Unmündigkeit. Theweleit zeigt auch, dass die bewusste Übertretung von Gesetz und Moral(?) gegenüber speziellen Bevölkerungsgruppen nicht zu Strafen führten und so als legitim angesehen werden konnten. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil sich hierdurch die vielen Gewaltexzesse erklären lassen, und zwar nicht aus einem Prinzip, dem des eliminatorischen Antisemitismus, sondern als Analyse der sozialen Bedingungen und der persönlichen Verantwortung. Und gerade die Mündigkeit lässt sich für das Milgram-Experiment als weiterer wesentlicher Bezugspunkt bestimmen. Es wird Anpassung gefordert, einzig und allein als Befolgung der einmal festgeschriebenen Anweisungen. »Die Gefahr ist objektiv, nicht in den Menschen gelegen«, Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit, 139. so Adorno, und Aufklärung gegen das Vergessen richtet sich zwar an die einzelnen Subjekte, jedoch mit der Frage der Bewusstmachung der objektiven Verhältnisse. So lässt sich der Antisemitismus eben nicht bekämpfen, indem vor Augen geführt wird, was Antisemitismus ist, sondern, welche Funktion er erfüllt und welche gesellschaftlichen Verhältnisse dies unterstützen. »Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt und Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst.« Ebd., 140. Ähnliche Sätze lassen sich auch in Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Ders., Vorurteil, Darmstadt 1978, 222–246 finden. Auch dort weist Adorno immer wieder darauf hin, dass die gesellschaftlichen Bedingungen wesentliche Voraussetzungen für autoritäre Strukturen sind. Um es nochmals zu betonen: Es geht nicht darum den Antisemitismus zu leugnen, sondern darum, ihn zu begreifen. Die Fähigkeit zur Reflexion, selbst Täter werden zu können, muss im Analytischen ihren Platz haben. Und es muss untersucht werden, wie sehr die Verhältnisse Gewalt begünstigen oder eben verhindern. Die allgemeine Leugnung der Taten durch die »Deutschen« scheint mir auch so interpretierbar zu sein.

 Erweitern lässt sich diese Perspektive mit der von Horkheimer und Adorno benannten verzerrten Wahrnehmung durch die antisemitischen Ressentiments. Ich denke, keineswegs zufällig kommen sie in ihren »Elementen des Antisemitismus« darauf zu sprechen, dass die »falsche Projektion« des Antisemitismus etwas mit dem Ausfall der Reflexion zu tun hat, die falsche Wahrnehmung der Subjekte, ihre eigene Position in der Gesellschaft und der Welt. Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit, 144. Für die Frage der autoritären Persönlichkeit käme es darauf an, Bedingungen zu schaffen, in denen Widerspruch möglich ist oder wird. Wie die Verhältnisse Unmenschlichkeit fördern oder auch verhindern, wer in welcher Gesellschaft zum Täter werden kann oder sich zu wehren weiß, richtet sich damit als Frage an alle. Die persönliche Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen statt technischer Verantwortung für die einmal in Gang gesetzten Verfahrensabläufe, wäre eine der Schlussfolgerungen, die sich mit Bauman und Milgram ziehen lassen.

 Der Nationalsozialismus, so Adorno, lebt nach, »und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst, was so ungeheuerlich war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam, die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen, wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.« Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Leipzig 1989. Trotz aller vorhandenen Freiheit sind wir weit davon entfernt, Verhältnisse zu schaffen, die sich dem stellen, was Horkheimer und Adorno so beschrieben: »In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts.« Ebd., 125. Und trotz aller barbarischen Regime kommt es darauf an, solche Verhältnisse vor der eigenen Haustür anzustreben.

~Von Sven Bärmig.