Wenn ich einmal reich wär

Über die so ganz andere Unmöglichkeit eines harmlosen Traums

Es geht im Folgenden um Reichtum. Aber um Reichtum nicht als ökonomische oder soziologische Größe, wie sie von der Statistik gestützt, ja mit produziert wird. Es geht nicht um eine Kritik der Tatsachen, sondern um eine Kritik der Vorstellung. Deren Inhalte sind im Wesentlichen unbewusst, so dass sie durch das Raster des Objektbezugs hindurchfallen. Prompt scheinen sie einer Überprüfung nicht bedürftig, nicht zugänglich; denn »irgendwas muss man sich doch vorstellen«. Den Anstoß zu dieser Kritik gibt die Vermutung, dass die gängige Vorstellung vom Reichtum, gerade indem sie mehr als eine Auskunft über Zahlen enthält, höchst vage, womöglich in sich kontradiktorisch ist. Deren Klärung zielt dabei weniger auf einen richtigen Begriff vom Reichtum als auf eine Art Achtsamkeitstraining für den Verstand, damit er nicht in Milchmädchenrechnungen verfällt. Der Verstand ist für Abstraktes nicht nur zuständig, sondern auch dafür verantwortlich, dass man es als solches erkennt und nicht im fatalen, aber die Phantasie anregenden Quidproquo Konkretes für abstrakt und Abstraktes für konkret hält. Immerhin gehört nicht nur das Gefühl, sondern auch das Abstraktionsvermögen zu unserer Ausstattung, und etwas Abstraktes abstrakt auffassen heißt nicht zwangsläufig: sich entfremden.

Andere sind reich, sagt der bekannteste Song aus Anatevka, wir wären es nur gern. Die andern sind es im Indikativ, wir bloß im Konjunktiv, genauer im Irrealis. Dass die andern es womöglich auch nur im Irrealis sind, das kommt uns nicht in den Sinn, würde es uns doch der Möglichkeit berauben, selbst »einmal reich« zu sein. Wir jedenfalls, sagt Tevje, der Milchmann, in seinem Traum, den er mit seinem Publikum träumt, wären gern reich, aber wir sind es nicht.

Dass er ein Traum ist, macht unsern Wunsch unanfechtbar, um nicht zu sagen, dass er Musik ist: o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum. Wo­rüber sich allerdings streiten ließe, was im Kontext einer höchst subjektiven – um nicht zu sagen irrationalen – Äußerung aber von mindestens gleicher Unanfechtbarkeit scheint, das ist das Grundgerüst des Satzes, der uns als Subjekt den Reichtum als Attribut ausweist. Zwischen Subjekt und Attribut können sich Dramen abspielen, die von der Schicksalshaftigkeit der Armut oder der moralischen Fragwürdigkeit des Reichtums handeln, ja, bis hin zum Rollentausch reichen. Die Möglichkeit, dass der Reichtum das Subjekt ist, wir bloß seine Marionette sind, ist so außerordentlich kränkend, dass man meinen könnte, radikaler lasse sich nicht zweifeln.

Das ist ein Irrtum. Denn da ist ja noch der fraglose Glaube an die Sachhaltigkeit der Bezugsgrößen: wir, auf die es ankommt, und der Reichtum, den es gibt. Sie gehören weniger zum Grundbestand von Theorie als zum sozialen Unbewussten, zum Hintergrund unserer täglichen Erfahrungen, den wir als konkret empfinden, der aber abstrakt ist. Dabei haben wir eher noch gelernt, am Ich zu zweifeln als am Reichtum, der ja nicht nur durch unsere unmittelbare Wahrnehmung, sondern durch den Gegensatz von Arm und Reich beglaubigt wird. Ja, vermutlich leitet sich der unerschütterliche Glaube an den Reichtum, an die Macht seiner Denunziation, nicht zum Wenigsten aus diesem Gegensatz her: Wenn Armut nicht infrage gestellt werden kann, wie dann der Reichtum.

Mit Tevje, dem Milchmann, sind wir geneigt das Aussichtslose des Wunsches, reich zu sein, auf die Verfasstheit unserer Person, die sich nicht aufraffen kann, oder auf die Bewegungen des Reichtums zu schieben, der uns umschifft: »Herr / du schufst den Löwen und das Lamm /, sag’ warum ich zu den Lämmern kam?« Dabei muss der Wunsch bereits an seinen Ungereimtheiten, am Nonsens seiner Voraussetzungen scheitern. Denn nicht nur stellt sich die Frage: Reich werden, wie soll das gehen? Sondern: Reich sein, was soll das sein? So stereotyp der Wunsch ist, so lässt sich aus ihm doch nichts gewinnen, was auf die stabile Form schließen lässt, die das Verb »sein« verspricht. Denn wenn ich wirklich reich wär, wäre ich dann noch ich, und wäre dem Reichtum die feste Form beschieden, die nötig ist, damit ich sagen kann: »mein Reichtum« oder »ich bin reich«? Der Lottogewinner kann von seinen Versuchen, den über ihn hereingebrochenen Reichtum zu domestizieren, berichten; wie gewonnen, so zerronnen, weiß vor allem der Spieler. Das Märchen Von dem Fischer un syner Fru ist eine Parabel über den Zerfall der Person, die sich aufs Wünschen verlegt; in kürzester Zeit erkennt der Mann seine Frau nicht wieder. Womöglich zielt ja der innige Wunsch nach Selbstverwirklichung durch Reichtum im doppelten Sinn auf meine Verabschiedung: als Person und Subjekt. Ich wäre also doppelt betrogen. Vielleicht kann man gar nicht reich sein, selbst wenn man vom Reichtum eine rührend verkleinerte Vorstellung hat und der Wunsch gar nicht auf das Schloss, nur auf sein Türmchen zielt. Der Grund dafür wäre primär weder ethisch noch sozioökonomisch oder politisch, sondern immer schon logisch: weil dem Reichtum etwas Abstraktes inne wohnt, im Gegensatz zum Geld auch etwas Symbolisches, das nun einmal konkret und real nicht besessen werden kann. Es sei denn, man definiert den Besitzenden so abstrakt wie den Reichtum und lädt ihn mit mythischen Qualitäten auf, was ihn zu einem Wesen eigener Art macht, »dem Reichen«, der nicht durchs Nadelöhr kommt, »den Reichen«, die an allem schuld sind. Für die konkrete Person gilt, dass sie etwas Abstraktes und Symbolisches unmöglich haben kann, es sei denn, sie opfert sich auf, transferiert unermüdlich das Abstrakte ins Konkrete, Unsichtbares in Sichtbares, wechselt große Scheine in kleine und gibt sie aus, verzehrt, was sie sich leisten, aber gar nicht verdauen kann. Mit einiger Mühe fände sich schon in den antiken Fabeln das einschlägige Vorbild, auch Sisyphos lässt grüßen. Was aber für die Person gilt, das gilt prinzipieller noch für den Reichtum, der, da in seinem Kern abstrakt, allenfalls zum Symbol, aber unmöglich zur Person werden kann, gar zum Drahtzieher oder zum Mächtigen, zu dem, der die Gesetze macht oder nach dessen Flöte der Rest der Welt tanzt.

Weder gibt es »die Reichen«, so dass von ihrer Einsicht oder ihrer Enteignung alles Mögliche erhofft werden kann, noch ihren Reichtum in jener Form, die ihn als Objekt konstituiert und die Voraussetzung dafür ist, dass er sich von ihnen ablösen, ihn teilen, verteilen und, wie das verheißungsvolle Wort lautet, »umverteilen« lässt. Zumal der Reichtum der Wenigen dank der Armut der Vielen zustande gekommen ist. Was den einen zugefallen ist, kann den andern zurückgegeben werden nur in einem gedanklichen Kurzschluss, der von den Bedingungen des Reichtums abstrahiert und ihn schlicht als etwas Gegebenes betrachtet, etwas was man eingenommen hat und daher ausgeben darf, als etwas, was sich auch außerhalb seines »Habitats« erneuert. Das an einer Stelle reichlich vorhandene Geld ist an anderer Stelle daher nur im Irrealis besser untergebracht, was Tevje gleich doppelt ausdrückt, nicht nur durch das modale »wär«, sondern auch durch das zählende »einmal«, in dem sich das kindliche »nur ein einziges Mal!« mit dem erwachsenen »dermal einst« zu einer hoffnungsvollen Beschwörung verquickt.

Der Reiche und sein Reichtum

Reichtum als Wunschvorstellung drückt weniger eine Möglichkeit als vielmehr eine Illusion aus. Diese wird dadurch befördert, dass ihm im Vergleich zum Geld etwas Stabiles, etwas weniger Flüchtiges eignet, dass er nicht nur eine innere Form hat, sondern eine Kontur, als könnte man diese mit dem Stift nachzeichnen. Fast wie einer Person kommt am Reichtum ein Moment von Individualität und Ganzheit, von Attraktivität und Charakter zum Ausdruck, so als habe durch schiere Akkumulation, von unterschiedlichen Erscheinungsformen von Wert – von Mobilien und Immobilien ?, ein qualitativer Sprung stattgefunden aus einer Sache in ein Wesen. Kurz, Geld habe sich in Reichtum, mit der untergründigen Bedeutung einer Person oder Persönlichkeit verwandelt.

Auf ewig ungeklärt bleibt in der Wahrnehmung von Reichtum, was wichtiger ist: dass analog zum Sprichwort »Die Kleidung macht den Mann« der Reichtum die bedürftige Person zur Persönlichkeit formt. Oder dass er selbst ohne Person nicht existiert, allenfalls in der transitorischen Form, dass »ein ungeheurer Reichtum auf seinen Besitzer wartet«, auf den Nachfolger, den Erben, bereits zugeschnitten ist, von ihm seine Kontur erhält. Diese Zweideutigkeit trägt sicherlich zur Faszination des Reichtums bei, zur Illusion, um ihn webe ein Geheimnis, gebe es immer noch etwas zu klären. Zumal die Regel gilt: je unmittelbarer der Reichtum, desto rätselhafter. Denn sein Wesen ist nun mal abstrakt, und je deutlicher man ihn sieht, desto sicherer ist man auf der falschen Piste. Mag der Reiche, in der sprichwörtlichen Gestalt des Oligarchen, des russischen Elefanten im südfranzösischen Porzellanladen, am Strand von Monaco, Nizza oder Saint-Tropez mit seinem ungehobelten Benehmen noch so unangenehm auffallen, es ist etwas Sakrales um ihn, er hütet einen Schatz. Je unansehnlicher er ist, und je peinlicher er sich aufführt, je weniger man ihn mit ihm verwechseln kann, desto eindeutiger verweist er auf den Reichtum. Auch an der sublimen Gestalt des Weltbürgers und bis ins hinterste afrikanische Dorf umsichtig wirkenden Menschenfreunds oder Kulturförderers, der das Menschliche schlechthin vertritt, ist etwas grundlegend Fremdes, vielleicht mehr als Geheimnisvolles, etwas Außerirdisches, so als käme er von einem anderen Stern, wäre nach einem anderen Modell gestrickt, nicht nur mit anderem Muster, sondern nach einem anderen Plan.

Bei der Herstellung der Vorstellung vom Reichtum wird man, je nachdem wie man den Blick einstellt oder selbst »drauf« ist, entweder der Sache oder der Person die größere Bedeutung zuweisen und dabei nie ganz auf der Höhe des Ereignisses sein. Weil im Reichen sich nicht nur eine wunderbare Symbiose von Sache und Person vollzieht, sondern weil in ihr der im Reichtum selbst angedeutete Übergang eines amorphen Haufens Geld zu einer konturierten, würdigen Form zum Ausdruck kommt. Ohne die sich zur Verfügung stellende Person könnte der Reichtum diesen Sprung, diesen letzten Entwicklungsschritt zu sich selbst, nicht vollziehen. In all seiner Materialität bliebe er sonst wie tot oder in all seiner Abstraktheit unwirklich.

Reichtum und Geld

Dem Reichtum haftet also etwas zugleich Bestimmtes und Ominöses an. Er fasst etwas zusammen und bringt es auf einen Begriff, seinen eigenen. Und er deutet einen Sprung in eine höhere Sphäre an, in der es nicht mehr reicht, viel zu sein, sondern das Viele auch zu sein. Das heißt, nicht nur demjenigen, der reich ist, sondern auch dem Reichtum eine eigene Form zuzubilligen. Das macht die Frage auf, wer in der Beziehung von Reichtum und Person das Subjekt ist und wer bloß das Attribut, wer von wem die Form übernommen, wer sie hervorgebracht, wer sie bloß entlehnt hat. Was im Reichtum zusammengefasst und durch ihn auf einen neuen Begriff gebracht wird, ist das Geld. Der Reiche hat viel davon, der Arme wenig. Aber als Voraussetzung und zugrundeliegende Rechnungsart des Reichtums verliert sich die robuste Natur des Geldes, und es wird zur Metapher oder zum Symbol für Reichtum, der Milliardär, durchaus metaphorisch, zum Inbegriff einer Summe. Im Zuge dieser Umwandlung kommt es nicht selten vor, dass der Reiche weniger im Portemonnaie hat als der Arme, da das Geld dank der ihm eigenen Adhäsionskräfte, die nicht zum Konsum, sondern zur Reichtumsbildung streben, sich nicht hineinbegeben hat, oder weil ausgerechnet der Reiche, auf sein höheres Sein bedacht, sich vom Geld abgrenzen muss. »Pecunia non olet. Geld stinkt nicht« ist die Maxime bloß des Prolls unter den Reichen. Zahlreich sind die Anekdoten vom Reichen, der sein Taxi nicht bezahlen, keine Almosen geben kann, denn seine Taschen sind leer.

Es gehört zur fast schon metaphysischen Natur des Reichtums, dass er, solange er nicht mit Geld, »viel Geld«, verwechselt wird, nicht recht greifbar ist. Und aus seiner metaphysischen Natur folgt, dass er sich dem Alltagsblick nicht erschließt. Der ist einerseits auf Sinnliches, andererseits aber auf Kontinuierliches aus, auf Lineares, auf eine Fortsetzung und Steigerung dessen, was immer ist, nicht aber auf den qualitativen Sprung, der nicht nur das Objekt ungreifbar, sondern auch den Genuss ungewiss macht: wer soll genießen und was oder wie genießt man überhaupt, wenn man reich ist. Wenn wie bei Proust kruder Reichtum sich des uralten Adels bemächtigt, dann wird letzterer paradoxer­weise menschlicher. Und wenn der »unermessliche Reichtum« eines modernen Konzerngründers in eine Stiftung verwandelt wird, die ihn seinem Zugriff entzieht, dafür seinen Namen trägt, dann wird er persönlicher. Im ersten Fall weiß man, dass »es dort auch nicht anders zugeht«, im zweiten ahnt man die Schwierigkeiten des Besitzers, das Wirklichste auf der Welt zu realisieren, zugleich, an wen man sich wenden kann, um ein wenig zu profitieren.

Reichtum, in der kruden Wirklichkeit des Alltagsblicks, gibt es nur auf der Ebene des Geldes, in der Fachsprache als »Liquidität«, und deshalb wird letztere so gern mit ersterem verwechselt. Wer Geldbündel in die Tasche stopft, Scheine hinblättert, Zigarren, dick wie Geldbündel, raucht und Diamantringe an den Fingern trägt, der ist reich oder vielmehr er »hat Geld«, in jener ominösen Formulierung, die den Reichtum auf die Ebene des Geldes herunterholt. Wer »Geld hat«, von dem weiß man zwar nicht genau, was und wieviel er hat, aber dies weiß man genau: Er hat es zur Verfügung. Es ist da, wenn er es braucht ? wäre da, wenn er es denn bräuchte. Reichtum, in dieser ebenso utopischen wie hoffnungslos kindlichen Version, ist gezähmt. Er ist ein für allemal der Hintergrund der Person, nicht sie sein Gesicht. Er ist ihr Attribut, nicht umgekehrt sie das Attribut des Reichtums. »Er hat Geld« ? die klassische Beschreibung eines Heiratskandidaten von anno dazumal, »Hat er Geld?« die dazugehörige Frage – signalisiert das Ende der Dialektik zwischen Person und Reichtum: er »hat Geld«, nicht es ihn. Der Hochstapler ist mehr als jeder andere die Verkörperung dessen, der Geld hat. Unter seiner Regie wird es sich ebenso wenig verselbständigen wie sich seiner bemächtigen. Kein Wunder. Er hat es ja nicht, er demonstriert lediglich seine Vorzüge. Insofern die unmittelbare Verfügung über Geld der alleinige und wahre Inhalt jedes Traums vom Reichtum ist, ist er und nicht Bill Gates oder die Queen der König. Die müssen einen Etat aufstellen, eine Stiftung gründen. Er muss es gar nicht haben, er muss es nur ausgeben.

Er kann es, wir alle wissen es, bloß für einen Moment. Aber dieser Moment ist nicht nur zeitlich der Moment vor seiner Entlarvung, weshalb er stets auf der Flucht ist, rechtzeitig Reißaus nehmen muss. Er ist es auch in systematischer Hinsicht, verkörpert er doch das am Geld, was es dem unmittelbaren Bewusstsein kostbar macht. Hierin liegt eine doppelte Sicherheit für die Person, die zwar reich sein, sich dem Reichtum aber nicht ausliefern will. Denn nicht nur betrachtet sie Geld ? im schnöden Gerundivum ? als ein permanent Auszugebendes, sie wahrt auch strikt die Dimensionen der Person. »Dann kaufe ich mir so viele Döner, wie ich will«, formuliert einen Reichtum, der auf der Skala des Gelds und im Rahmen der Person verbleibt. Auf der Skala des Reichtums wäre das ein armseliger Wunsch, einer, der sich selbst entlarvt, mag er auf der Skala der Person auch pures Glück bedeuten. Unter den Ansprüchen des Reichtums rücken Geld und Person zusammen. Sie machen einen geradezu symbiotischen Eindruck, so als wären sie nicht nur ein Herz und eine Seele, sondern nach gleichem Muster gestrickt.

Geld als Erfahrung

In der Tat bringt das Geld nicht nur die Abstraktheit der sozialen Verhältnisse auf den Punkt. Es bringt die abstrakten Fähigkeiten des einzelnen in Bewegung. Schon das Kind freut sich, wenn es sein Taschengeld ausgibt, nicht nur über die Abstraktheit des Geldes, das ihm himmelweit Verschiedenes – ein Schokoladeneis, ein Comic-Heft, ein Blümchen für seine Mama – zur Verfügung stellt. Es freut sich auch an seiner eigenen Abstraktheit. Die ist nicht nur unsichtbar, sondern je nach dem Ansturm dessen, womit es über die Sinne zu tun bekommt, über weite Strecken des Tages unbewusst. Die Abstraktheit ist zweifelsfrei da, aber es merkt sie nicht. Im Moment der Entscheidung hingegen vergegenwärtigt es sich mitnichten nur den Reichtum der Warenwelt und wiegt sich in der Illusion, sie wäre sein, sondern vergegenwärtigt sich, die Psychologie würde sagen, seine abstrakten Anteile. Indem es die Entscheidung immer wieder herbeiführt, dokumentiert es nicht nur seine suchtförmige Beziehung zu einer Scheinwelt, auf die es immer erneut hereinfällt, und liefert sich dem Frust darüber aus, dass die unermessliche Vielfalt sich in einem knallharten Entweder-oder realisiert. Es bricht die Unmittelbarkeit und Übermacht der eigenen Bedürfnisse, den frustrierenden Kurzschluss zwischen Bedürfnis und Ware durch die verlässliche Freude an der eigenen Funktion. Man kann sich eines Gegenstands nicht nur durch Besitz, sondern auch durch Überlegung, nicht nur durch Verbrauch, sondern auch durch Vergleich und Verzicht bemächtigen, stellt es fest. Indem es die konkrete Inbesitznahme hinausschiebt und sein Geld behält, bleibt es für einen kostbaren Moment bei sich und das Geld, als verlängerter Arm seiner Fähigkeiten, auf seiner Seite. Im vollendeten Kaufakt verschwindet dagegen nicht nur die so bemerkenswerte Eigenschaft des Geldes, vielerlei zu repräsentieren, und ein ganz gewöhnlicher Gegenstand ? vor dem Hintergrund dessen, was er vor der Entscheidung war, toter als tot ? bleibt übrig. Auch die erweiterte Einheit des Kindes, nicht nur mit seinen Bedürfnissen, denen es untertan ist, sondern mit seinen abstrakten Fähigkeiten, mit denen es spielt, ist perdu, es spürt sie nicht mehr. Zwar kann es den erworbenen Gegenstand, wie man den Kindern nachsagt, in seine Phantasiewelt einbauen, seine eigene oder innere Welt, aber seine abstrakte Natur, die nichts weniger als psychisch ist, erlebt es dabei nicht, und auch deshalb verstaubt er bald in der Ecke. Wenn von Enttäuschung des Kindes die Rede ist, sollte man daher nicht nur an die Verarmung und Verödung denken, der das gekaufte Spielzeug auf seinem Weg aus der sprichwörtlich glitzernden Warenwelt ins Kinderzimmer unterliegt, sondern auch an die Verödung der Person, deren abstrakte Anteile in den Schlafmodus zurückgekehrt sind.

Am anderen Ende der anthropologischen Skala, also auch in einer Grenzsituation, offenbart der alte Mensch zum Geld einen Bezug, der wie eine Kritik sämtlicher Irrtümer ist, die er in seinem Leben angehäuft hat. »Man kann es nicht mitnehmen«, ermahnen die Alten sich gegenseitig. Sie zielen auf »die letzte Reise« und meinen damit den Tod. In ihrem Lakonismus nimmt die Ermahnung sich wie eine Kritik an einer allzu kindlichen Vorstellung vom Jenseits aus, in das man mit allem einzieht, was sich in einem langen Leben aufgehäuft hat, gleichzeitig aber wie eine Kritik an dieser allzu kindlichen Vorstellung vom Leben und vom Geld. Ist es nicht eine immerwährende Versuchung, sein Geld zu horten, es als Notgroschen, eiserne Reserve deklariert dem Zugriff von Räubern und Finanzamt zu entziehen und sich von seiner Materialität und Menge angesichts der Unbilden des Lebens trösten zu lassen, zumindest in Gedanken? »Man soll mit warmer Hand geben«, sagt der Volksmund streng, und ist wie immer, wenn es um die Schnittstelle zwischen dem biologischen und dem sozialen Menschen geht, unübertroffen klug, freilich auch barbarisch und zu jeder Entgleisung bereit. Nur er kann es sich erlauben, in einem Bild, das nicht zufällig in den Handreichungen zum Steuersparen im Erbfall einen festen Platz gefunden hat und eher an den Traum von den lebenden Toten als an die kalte Welt der Geschäfte erinnert, Sterblichkeit und Geldlichkeit peinlich zusammenzurücken. Und damit auf einen Aspekt des Abstrakten aufmerksam zu machen: nicht seine Abstraktion von Gegenständlichkeit, sondern seinen mangelnden Bezug zur Lebendigkeit. Ist die konkrete Ware ein vergänglicher Gegenstand, so fehlt der abstrakten Geldsumme aller Beweglichkeit oder Beliebigkeit zum Trotz die Voraussetzung dafür, dass sie ebenfalls stirbt: Sie lebt nicht. Sie teilt nicht die biologischen und persönlichen Koordinaten ihres Besitzers, ist auf ihn allem Anschein und aller Fürsorge zum Trotz schlicht nicht zugeschnitten und hat für sein unvermeidliches Sterben »so gar keine Antenne«, stirbt weder mit ihm noch überlebt für ihn. Dass sein Geld nicht mit ihm stirbt, ist, ins Absurde übersetzt, der Kummer dessen, der an seiner Unsterblichkeit partizipieren wollte, dass es ihn überlebt, eine Kränkung, die sich mit Rationalisierungsangeboten à la »Ansehen« und »Würde bis zum Ende« nicht besänftigen lässt. Der Tod lässt sich nicht sublimieren. Wie der König in Ionescos Stück »Der König stirbt« (»Le roi se meurt«) aus dem Fenster ruft: »Volk, euer König stirbt!«, so möchte der Sterbende seinem Vermögen zurufen: »Geld, dein Besitzer stirbt!« So wie das Volk soll auch das Geld »kapieren«, dass es bedroht ist, aber es kapiert es nicht, und es ist ja auch gar nicht bedroht, so wenig wie das Volk durch den Tod seines Königs. Beiläufig bringt der krude Ausdruck ein abstraktes Element des Besitzens zum Ausdruck, das in seinen eher sinnlichen Assoziationen gemeinhin untergeht: dass Besitzen wesentlich Behalten ist. Besser, der Besitzer trennt sich in einem souveränen Akt rechtzeitig von dem, was er ohnehin nicht behalten kann, und zwar, in einer Umkehrung, nicht aufgrund der Einsicht in die vielbeschworene Vergänglichkeit der Dinge, sondern weil er selbst vergänglich ist.

Reichtum als Grenzerfahrung oder Moment

Das Unangenehme am Reichtum ist, dass man ihn nicht problemlos mit sich vermitteln kann, und das Bemühen darum nervt schnell. Man kann ihn nicht erleben, stellt man fest, man kann ihn nur empfinden. Doch Kontemplation macht müde. Je länger man seine Ländereien abfährt, seine Aktien studiert, desto ungeduldiger wird man. Dass man sich zu seinem Reichtum nicht ins Verhältnis setzen kann, kränkt, wie man heute sagt, narzisstisch.

Die Parallele zur Herrschaft drängt sich auf. »Dies alles ist mir untertänig«, sagt Polykrates, der den königlichen Gast »auf seines Daches Zinnen« geschleppt hat, um ihm eine Vorstellung von seiner Macht zu verschaffen. Ausdehnung ist hier Metapher für etwas, was von intensiver Natur ist. Es reicht, wenn der Gast schaut und sich etwas dabei denkt; so kommt er der Natur der Herrschaft näher. Aber so wie Herrschaft ein Moment von Ausübung anhaftet, das nicht weggedacht werden kann, so dem Reichtum, sofern er denn persönlich gemeint ist, ein Erleben, das nur als Grenzerfahrung oder Momentaufnahme zu haben ist: Jetzt bin ich reich. Hier zeigt sich, dass Reichtum nicht für die Reichen ist. Wem die Münzen lustig in der Hosentasche klimpern, der ist reich, denn er hat sie nicht zählen, ihren Verbrauch nicht längst schon festlegen müssen. Wer sein Geld zum Fenster rausschmeißt, ist etwas ganz Besonderes, Herr auch über den Reichtum. Daher hat es wenig Sinn, Reichtum als bloßen Schein zu entlarven, so wie es früher wenig Sinn hatte, ihn als böse zu denunzieren, als Hinderungsgrund, in den Himmel zu kommen: »Eher geht ein Kamel durch …«. Es gibt ihn wohl, aber als Moment, in klassischer Form: »Gestern war ich arm, heute bin ich reich.« Wenn die Heroen unserer Zeit das Unmögliche vollbringen, eine Herkunft womöglich von ganz unten mit Millionen von ganz oben zu vermitteln, dann führen sie, moderne Opferlämmer, die sie sind, in Wirklichkeit nicht die konkrete Vermittlung, sondern lediglich den Moment der Verschmelzung, nicht selten »das Wunder von …« genannt, vor. »Abgerechnet wird zum Schluss«, sagt der Bürokrat. Wenn aber der Moment von anderer Kategorialität als das Kontinuum ist, wird gar nicht gerechnet. Das ist die Botschaft.

Ilse Bindseil

Die Autorin ist Lehrerin und Autorin.

Bibliographie und weitere Texte finden sich unter www.ilsebindseil.de