»Wer für Israel spricht, gefährdet sein Leben«

Ein Gespräch mit Eldad Beck über die Islamisierung des Nahen Ostens, die ungebrochene Virulenz des Antisemitismus und die Sorgen Israels im Kontext des arabischen Frühlings

Eldad Beck ist Deutschland- und Europakorrespondent der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth, sowie Nahost-Korrespondent verschiedener Medien in Israel und Europa.

 

Phase~2: Eldad, kannst Du uns vorab vielleicht eine Einschätzung der Ereignisse geben, die hierzulande zunächst recht optimistisch als »arabischer Frühling« betitelt wurden? Handelt es sich dabei wirklich um einen Modernisierungs- und Demokratisierungsschub, oder nicht eher um eine Verlagerung der Machtverhältnisse von militärischen zu religiösen Eliten? Haben wir es nicht vielmehr mit einer Islamisierungs- statt einer Demokratisierungsbewegung zu tun?

Eldad Beck: Die Definition »arabischer Frühling« ist an sich anti-demokratisch, da im Nahen Osten viele ethnische Gruppen existieren, die nicht arabisch sind und seit Hunderten von Jahren unter der kulturellen und religiösen Diktatur einer arabischen Mehrheit leben. Solange die Rechte all dieser Gruppen nicht anerkannt und respektiert werden, wird es im Nahen Osten keine wirkliche Demokratie geben. Die Massenbewegung, die wir seit Dezember 2010 in manchen arabischen Staaten erlebt haben, hat in ihren Anfängen gezeigt, wie bunt und komplex der Nahe Osten in der Realität ist. Es waren Stimmen zu hören, die bis zu diesem Zeitpunkt vor dem Hintergrund des politischen Phantasmas der »arabischen Einheit« unterdrückt worden waren. Es gab, sehr kurz, die Hoffnung auf einen anderen Nahen Osten – frei, ohne Diskriminierung, lebendig und modern. Diese Hoffnung ist leider sehr schnell wieder verschwunden. Die Ergebnisse der Wahlen in Tunesien, Marokko und Ägypten, wie auch die Entwicklungen im Jemen, in Libyen und Syrien zeigen, dass die Diktatur des Arabismus ihre Form gewechselt hat, und nun als Islamismus auftritt. Freie Wahlen bedeuten nicht immer Demokratie. Demokratisierung ist ein langer und schwieriger Prozess, besonders in Gesellschaften, die nie eine richtige demokratische Erfahrung in ihrer Geschichte gemacht haben. Ob die politische Islamisierung im Nahen Osten Raum für eine wirkliche demokratische Entwicklung lässt, ist noch zu sehen.

Phase~2: Es scheinen ja ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Gruppen von den Protesten zu profitieren. Während z.B. die Muslimbrüder in Ägypten mitsamt ihren Ablegern, wie der palästinensischen Hamas, starken Aufwind erfahren haben und sich mit den Protesten solidarisieren (z. B. wendet sich die Hamas gegen den syrischen Diktator Assad), sieht sich die libanesische Hisbollah mit dem Wanken des Assad-Regimes in Syrien vor ernsthafte Probleme gestellt. Die bisherige, antizionistische und antisemitische Einheitsfront scheint brüchig zu werden und von anderen Problemkonstellationen überlagert zu werden. Hat sich die politische Rolle des Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften vor dem Hintergrund der Ereignisse gewandelt?

Eldad Beck: Es ist zunächst zu beachten, dass in gerade einmal 5 von 22 Staaten die von den Massen getragenen Revolten erfolgreich waren. Dafür wurde die Revolte in Bahrain schnell mit militärischer Hilfe aus Saudi Arabien unterdrückt; die Revolte in Algerien war sehr kurz und in Marokko hat der König eine demokratische Wahl organisiert, ohne dass er dazu durch Gewalt gezwungen wurde. Außerdem sollte man zwischen Sunniten und Schiiten unterscheiden. Die größten Gewinner der Revolten in einigen der arabischen Länder sind die Muslimbrüder, die eine sunnitische Bewegung sind. Diese Bewegung hat in Marokko, Tunesien und Ägypten die Macht erobert. Die Bruderschaft ist auch die stärkste Oppositionskraft in Syrien, wo das Regime seit Jahrzehnten von einer Minderheit gehalten wird, die sich schiitisch profiliert. In diesem Kontext sollte man die Unterstützung von Assads Regime durch die Hisbollah und den Iran sehen. Es geht um einen Machtkampf zwischen Schiiten und Sunniten im Nahen Osten. Und es bleibt, wie es in der Region immer schon war: wenn zwei arabische oder islamische Lager sich gegenseitig bekämpfen, dann werden Israel und die Juden von allen Seiten für alles verantwortlich gemacht. Das heißt Antisemitismus. Demokratie bedeutet hingegen Verantwortung für sich selbst und seine Taten zu übernehmen, anstatt immer den Anderen die Schuld zu geben. In diesem Sinne hat sich die Tradition des politischen Antisemitismus im nahen Osten nur noch verstärkt im letzten Jahr.

Phase~2: Die Bewegungen auf den Straßen der arabischen Welt traten und treten vor allem gegen den Autoritarismus der Regimes ein. Wofür sie sonst eintreten, ob für Demokratie, Mitbestimmung und Freiheit, oder für eine Islamisierung der Gesellschaft, scheint sehr unterschiedlich zu sein. Uns würde interessieren, ob Antisemitismus und das Feindbild Israel als einigende Momente der verschiedenen politischen Gruppierungen auch ihm Rahmen der Proteste eine wichtige Rolle spielen. Kommt ihnen eine besondere Bedeutung für das Selbstverständnis der Bewegungen zu? Oder verliert der Antisemitismus mit der Wendung gegen die eigenen Despoten sogar tendenziell an Bedeutung?

Eldad Beck: Wo auch immer sich die Massen im Nahen Osten (das gilt selbstverständlich nicht für Israel) im letzten Jahr mobilisiert haben, da war Antisemitismus leider Teil der Bewegung. Natürlich haben die jungen Menschen, die diese Massenproteste angestoßen haben, wegen anderen Themen revoltiert. Am Anfang war tatsächlich ein starker Wille, die herrschenden Zustände zu verändern, zu beobachten. Aber die islamistischen Kräfte haben diese Revolution »entführt«. Ihr politisches Programm richtet sich nicht nur gegen säkulare oder »pro-westliche« Autokraten, sondern ist ebenso deutlich antisemitisch und antichristlich. Alles was nicht zum Islam gehört wird rigoros abgelehnt. Das gilt auch für demokratische Prinzipien insgesamt, die als »westliche« Ideologie betrachtet werden.

Der Islam sollte, ich würde sogar sagen er müsste, sich reformieren, bevor er fähig ist, richtig demokratisch zu werden. Der Weg dorthin ist noch sehr, sehr lang. Man kann den Islam von einer demokratischen Entwicklung im Nahen Osten nicht ausschließen, denn er ist Teil der Region. Aber nur ein Teil, der die Existenz anderer Teile der Region akzeptieren muss. Die Denker des heutigen Islam müssen öffentlich anerkennen, dass Israel und die Juden des 21. Jahrhunderts nichts mit den jüdischen Stämmen zu tun haben, die in Zeiten des Propheten Muhammad in Arabien lebten und mit dem Propheten Streit hatten. Genauso müssen sie öffentlich akzeptieren, dass der Westen und die Christen von heute keine mittelalterlichen Kreuzfahrer sind. Demokratie heißt Akzeptanz und Respekt vor den Anderen. Ein Dialog zwischen den Religionen aber auch zwischen Religiösen und Säkularen ist im Nahen Osten notwendiger denn je. Nur dadurch könnte Frieden erreicht werden. Solange Prediger und Parlamentarier zur Auflösung Israels und zur Befreiung von »ganz Palästina« aufrufen, kann man nicht von Demokratie oder Meinungsfreiheit sprechen, sondern muss das als totalitäre religiöse Machtübernahme betrachten.

Phase~2: Wird der Antisemitismus der Bevölkerung im politischen Transformationsprozess von den politischen Akteuren wie den Muslimbrüdern in Ägypten weiterhin bewusst instrumentalisiert?

Eldad Beck: Der Antisemitismus wird nicht nur instrumentalisiert, sondern auch ideologisch verstärkt und verbreitet. Und das gilt nicht nur für Ägypten, sondern überall wo die Bruderschaft an die Macht kommt. Die Hamas, ein Zweig der Bruderschaft, ist laut ihres politischen Programms eine antisemitische Partei. Das ursprüngliche ideologische Programm der Bruderschaft ist hochgradig antisemitisch. Der Gründer der Bruderschaft, Hassan Al-Banna, hat finanzielle Hilfe von den Nazis erhalten und war sehr eng mit dem Großmufti von Jerusalem, Amin Al-Husseini, verbunden, einem weiteren bekannten Kollaborateur der Nazis. Sayyid Qutb, ein wichtiger Ideologe der Bruderschaft und anderer islamistischer Bewegungen, hatte eine eliminatorische Haltung gegenüber den Juden. Dieser tiefsitzende Hass existierte vor der Gründung Israels und ist bis heute der Hauptgrund des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis. Militante Aktivisten der ägyptischen Bruderschaft kämpften schon vor der Gründungserklärung Israels gegen Juden im damaligen Eretz Israel bzw. Palästina. Sie verfolgten das Ziel, die Errichtung eines jüdischen Staates mit allem Mitteln zu verhindern. Dieser Kampf geht für die Bruderschaft jetzt weiter.

Phase~2: Israel gilt als die einzige echte Demokratie im Nahen Osten. Gibt es politische Kräfte, die in die Proteste involviert sind und sich jenseits der Linien des Nahostkonflikts positiv auf Israel beziehen? Oder scheitert eine solche Bezugnahme am Antisemitismus auch der »Progressiven« und an deren traditioneller Feindschaft gegen Israel?

Eldad Beck: Von Israel einmal abgesehen möchte ich anmerken, dass der Irak in den letzten Jahren eine sehr positive – wenn auch zugleich sehr blutige – Entwicklung in Richtung Demokratie gemacht hat. Ohne die Bilder von Saddam Husseins Hinrichtung wären die Exekution von Gaddafi und sehr wahrscheinlich auch der Prozess gegen die Mubaraks oder die Entmachtung Bin-Alis nicht vorstellbar. Allerdings möchte ich damit keinen direkten Vergleich zwischen mörderischen Diktatoren wie Hussein, Gaddafi und Assad auf der einen und Autokraten wie Mubarak und Bin-Ali auf der anderen Seite ziehen.

Tatsächlich gibt es heute mehr und mehr mutige Stimmen im Nahen Osten, die anders – positiv – über Israel sprechen. Trotzdem existiert in einer allgemeinen Atmosphäre, in der jeder seine Rivalen als »Agenten der Juden, Israels und des Mossad« beschuldigt, kein Raum für eine offene, seriöse Diskussion über das Thema Israel oder Antisemitismus in der »arabischen« Welt. Anstatt sich mit der Realität zu beschäftigen, ist die Mehrheit mit kranken Phantasien über die Macht der Juden und Israels über die Welt beschäftigt. Für die Einen unterstützt Israel die diktatorischen und autoritären Regimes. Für die Anderen steht Israel hinter den Revolten. Diese Mentalität, die mehr mit Phantasien zu tun hat als mit Fakten, ist hoch gefährlich und enthält das Potential für mehrere zukünftige Kriege.

Phase~2: Gibt es unter den von Dir erwähnten mutigen Stimmen innerhalb der Protestbewegung Gruppierungen oder Einzelpersonen, die auch die politische Rolle des Antisemitismus und des Israelhasses diskutieren, problematisieren und explizit ein anderes Verhältnis fordern?

Eldad Beck: Ja, aber leider sind diese Menschen eine kleine bedrohte Minderheit. Wer für Israel spricht, gefährdet damit sein Leben. Diese mutigen Menschen, die eine konstruktive Zukunftsvision haben, müssen vom Westen Unterstützung bekommen. Stattdessen machen die westlichen Regierungen schon wieder die Augen zu, wenn es um Hasstiraden gegen Juden und Israel geht. Sie sorgen sich mehr darum, dass man weiterhin Geschäfte mit den neuen islamistischen Regierungen abschließen kann.

Phase~2: Man hat viel darüber gehört, dass die aus den Protesten resultierende Instabilität der Region für die Sicherheitsinteressen Israels vor allem von offizieller, politischer Seite negativ bewertet wurde. Wie wird das darüber hinaus in Israel von den verschiedenen politischen Lagern wahrgenommen? Gibt es auch hoffnungsvolle Reaktionen, die von einer Demokratisierung der arabischen Gesellschaften einen Rückgang des Antisemitismus und der Instrumentalisierung des Feindbilds Israels durch die politischen und religiösen Eliten erwarten?

Eldad Beck: Verständlicherweise reagieren viele Israelis auf die Entwicklungen in den Nachbarländern mit Angst. Es war ihnen von Anfang an klar, dass ein Machtwechsel in den Staaten des Nahen Ostens nicht zu einer Demokratisierung, sondern zu einer Islamisierung führen wird. Viele Israelis verstehen sehr gut, was eine solche Entwicklung für eine mögliche Friedenslösung in der Region bedeutet. Wenn die Islamisten in Ägypten die Friedensverträge mit Israel erneut »verhandeln« wollen, dann zweifeln viele Israelis daran, dass es tatsächlich eine gute Idee war, mit Ägypten ein Friedensabkommen zu schließen, das nicht zu wirklichem Frieden geführt hat. Außerdem fragen sich viele Israelis, im Namen welches Friedens Israel sich gezwungen sehen sollte, weitere Kompromisse zu machen. Wenn es hingegen zu einer wirklichen Demokratisierung im Nahen Osten kommen sollte, dann werden die Demokraten beider Seiten sehr schnell eine gemeinsame Sprache finden.

Phase~2: Eldad, wir danken Dir für das Gespräch.

 

Das Interview führte Phase~2, Leipzig.