Der Sammelband Die Praxis der Wiedergutmachung, herausgegeben von Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler, möchte den Umgang mit der Wiedergutmachung in Deutschland und Israel vorstellen. Die 23 Beiträge stellen dabei durchweg die Dynamik zwischen Einzelschicksal und Behörde über die Beschreibung des administrativ-rechtlichen Rahmens.
Learning by doing nennen die Herausgeber zunächst die Praxis der Wiedergutmachung in Deutschland von ihren Anfängen mit dem Bundesergänzungsgesetz über das Bundesentschädigungsgesetz bis zur Arbeit der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft. Der Band schildert die Wechselwirkung dieses deutschen Learning by doing mit erinnerungspolitischen, geschichtswissenschaftlichen und psychologischen Diskursen. Damit eröffnet sich ein multidisziplinärer Blick auf den historischen Wandel der Praxis der Wiedergutmachung in Deutschland. Insbesondere die unterschiedlichen Perspektiven der in die Praxis involvierten Individuen und Institutionen werden hier nachvollzogen und nehmen in den Aufsätzen breiten Raum ein.
Shilumim ist der hebräische Begriff für die Wiedergutmachungsgelder, die Israel von Deutschland erhielt, und die in Israel kontrovers diskutiert wurden. Erneut kommt der angekündigte Vergleich Deutschland-Israel zu kurz. Beispielhaft dafür sei der Aufsatz von Ariela Sabag genannt, die anhand von drei Kibbuzim die Debatten um die Entschädigungszahlungen nachvollzieht und zu den dort herrschenden sozialen und kulturellen Bedingungen in Beziehung setzt. Im Mittelpunkt steht dabei die Spannung zwischen Privat- und Allgemeinbesitz in den Kibbuzim; eine spezielle Thematik, die für das Verhältnis zu Deutschland und den dortigen Umgang mit der Wiedergutmachung keine Rolle spielt.
Überhaupt geht der Band zwar auf viele interessante Aspekte der Wiedergutmachungspraxis ein, bleibt aber über weite Strecken hinter dem Anspruch zurück, den Umgang mit der Wiedergutmachung in Deutschland und Israel aufeinander zu beziehen.
Zu den treffenderen Beiträgen gehört da noch der von Christine Kausch. Sie stellt das Spannungsverhältnis zwischen behördlicher und lebensweltlicher Logik im Prozess der Wiedergutmachung in den Mittelpunkt und zeigt die Diskrepanz zwischen Institution und Individuum auf. Im grotesken Versuch, dem Holocaust mit bürgerlichen Rechtskategorien beizukommen, bestehe kein »homogener Sprachzusammenhang« – die Bedürfnisse der Geschädigten stehen unvermittelbar neben der bürokratisierten Sprache der Tätergesellschaft. Kollektive Erinnerungskultur und individuelle Erfahrung bleiben unvereinbar.
Lesenswert, wenn auch den selbst gesteckten Anspruch des Buches verfehlend, sind etwa die Beiträge zur Ausgrenzung durch die Wiedergutmachungsbehörden (und auch einen großen Teil der Opfergemeinschaft), die Homosexuelle, »Kriminelle« und Sinti und Roma betreffen. Ausgrenzung und Vorurteile der NS-Praxis wirken hier in der Praxis der Entschädigung fort. Ganz ausgeschlossen von Entschädigung waren ehemalige NS-Verfolgte in Osteuropa während des Kalten Kriegs, wie im Beitrag von Miriam Rieck und Gali Eshet geschildert wird.
Doch auch unter den politisch Verfolgten entwickeln sich in der BRD Konflikte, die sich im Widerstreit verschiedener Interessenvertretungen ausdrücken, wie der Aufsatz von Boris Spernol zeigt. Versetzungen, personelle Zerschlagung von Wiedergutmachungsämtern und persönliche Angriffe gegen ihre AkteurInnen kurz nach Kriegsende bestimmen die Praxis der Wiedergutmachung in den ersten Jahren.
Es bleibt einigen wenigen israelischen AutorInnen vorbehalten, den Unterschied zwischen der deutschen und israelischen Wiedergutmachungspraxis herauszuarbeiten: Es war für die Überlebenden der Shoah in Israel eine perfide Situation, mit dem Nachfolgestaat des NS in bürokratische Verhandlungen zu treten. Nur hier kann der Band seinem selbst gesetzten Anspruch gerecht werden.
Vollends ärgerlich, weil im Kontext des Bandes unpassend und nivellierend, ist die Kritik der israelischen Praxis der Verteilung der Wiedergutmachungszahlungen, wie beispielsweise von Hanna Yablonka, die die schleppende Entschädigung der nordafrikanischen Jüdinnen und Juden in Israel kritisch darstellt.
Trotz einzelner interessanter Aspekte erfüllt also Die Praxis der Wiedergutmachung sein selbst gestecktes Ziel nicht – die parallele Betrachtung Deutschlands und Israels bleibt über weite Strecken undurchsichtig und führt in Ausnahmefällen sogar zu ärgerlicher Kritik an den Fehlern staatlichen Handelns in Israel, die wohl vorhanden, aber sicher nicht mit denen des NS-Nachfolgestaates zu vergleichen sind.
~Von Lena Kahle.
Norbert Frei, José Brunner, Constantin Goschler: Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel Wallstein, Göttingen 2009, 773 S., € 52,-.