Wilhelm Gustloff und der Lausitzzipfel

Der Text ist ein Vorabdruck aus Rainer Trampert/Thomas Ebermann: “Sachzwang und Gemüt. Sarkastische und analytische Texte über die Republik, die Welt und unsere Nachbarn”, der Ende August im Konkret Literaturverlag erscheint.

Stellen wir uns vor, in einem deutschen Kleingartenverein gibt der Pächter der Parzelle 82 bekannt, er gedenke fortan, ohne ein Geheimnis daraus zu machen, bei schönem Wetter am Wochenende Würste zu grillen und Bier zu trinken. Er beklagt, dass bislang
“keiner was davon hören wollte”,
fügt hinzu, solche Bekenntnisse
“waren jahrzehntelang tabu”
und wirft allen anderen, sogar ein wenig sich selbst, vor
“niemals ... hätte man ... schweigen dürfen”.
Dass man samstags grillt und säuft, könnten alle sagen, sei doch ein so großes Geheimnis nicht. Aber sie reagieren anders. Endlich ist es vorbei,
“das große Schweigen”,
ruft einer, und der Schriftführer des Vereins ergänzt:
“Ein lange verdrängtes Thema ... erfährt Rehabilitierung”,
während der Schatzmeister, der so gut rechnen kann, wieder mal eine Zahl zur Hand hat:
“57 Jahre nach Kriegsende wird das ... plötzlich erkannt.”
Der von Parzelle 17, dem man sonst immer vorwirft, er würde das Unkraut nicht jäten, spricht vom
“Ablegen nationaler Scheu”
und liegt sich mit seinem Nachbarn, mit dem er eigentlich seit Jahren nicht mehr spricht, weil man uneins ist, wem der Johannisbeerbusch auf der Grundstücksgrenze gehört, in den Armen.
“Er hat ein Tor für alle Deutschen aufgestoßen”,
feiern sie gemeinsam den Tabubrecher – und es kommt ihnen vor, als hätten sie jahrzehntelang nur rohen Fisch aus Japan oder türkischen Döner gegessen, runtergespült mit volksfremdem Nass, ohne ihre Sehnsucht nach Bier und Bratwurst auch nur auszusprechen zu wagen. Der gebildete Vorsitzende des Vereins, Lehrer für Deutsch und Geschichte, fasst, was hier erlitten wurde, in die Klage,
“dass einer ganzen Nation die Sprache über ... ihre traumatischen Erfahrungen abhanden kam”.
Wem haben wir gelauscht? Natürlich keinem Kleingartenverein, sondern der deutschen Intelligenz. Die ersten Zitate sind von Günter Grass, die nächsten aus “Spiegel”, “Tagesspiegel”, “Märkischer Oderzeitung”, “Abendblatt”, “Tagesspiegel” und vom Historiker Karl Schlögel. Der Anlass ist das Buch “Im Krebsgang”. Aber der Wahn, der behauptet, in Deutschland sei das Geflenne übers “Vertriebenenschicksal” je tabuisiert (gewesen), steht dem Irrsinn, man hätte Bratwürste nur klandestin grillen dürfen, in nichts nach.
Das wussten mal einige. Fünfzehn Monate vor dem Erscheinen des Romans von Grass stand in der Zeit:
“Viele Bücher, Filme, Zeitungsartikel haben (die “Gustloff”) und den Tod der Flüchtlinge fest im Bewusstsein der Deutschen verankert.”
Addiert man all die Groschenromane und Bestseller von Konsalik, Edwin Erich Dwinger, Leonie Ossowski und Arno Surminski, fügt die Zeitungsberichte und Dokumentationen von Jürgen Thorwald, Gräfin Dönhoff, Hans Graf von Lehndorf oder Walter Kempowski hinzu, vergisst die Bildbände über Trakener und Kirchen so wenig wie die Kochbücher, Volkstanzgruppen, Volkstrauertage nebst Tagen der Heimat, bedenkt, dass die zuvor schon üppige stattliche Förderung von “Brauchtumspflege” in der Regierungszeit verfünffacht wurde, beobachtet man, wie der “ZDF-Jahrhundertbus”, dieses mobile Aufnahmestudio durch deutsche Lande rollt und eine – wie die “Neue Züricher” schreibt -
“nicht enden wollende Reihe ehemaliger BDM–Mädel und Frontsoldaten ihre Erlebnisse, Erfahrungen, ihre Leiden und Verluste (nicht aber ihre Taten) vor den Videokameras der Zeitzeugenambulanz zu Protokoll geben lässt”,
damit die herzzerreißendste Sequenz “Hitlers Helfer”, “Hitlers Frauen”, “Hitlers Kinder” oder die nächste Vertriebenenserie montiert wird.
Es ist also schlicht zutreffend, wenn ein Redakteur des “Tagesspiegel” in einem lichten Moment von “einer eifrigen Literatur-Produktion” zur Erinnerung an Deutschlands einstige Schönheit und Größe, die wiederherzustellen nicht so übel wäre, zu berichten weiß und feststellt:
“In der Tat gehören Bilder der Pferdewagen auf der vereisten Ostsee ... längst zur Ikonografie der deutschen Nachkrieggeschichte ... und flimmern immer wieder über die Bildschirme.”
Um trotz dieser Erkenntnis nicht negativ aufzufallen, hat er sich eine Überschrift ausgedacht:
“Das Ende des Tabus”,
die zwar den Inhalt seines Artikels dementiert, aber gerade dadurch ihn als so debil ausweist, dass sein Ausschluss aus dem Diskurs der Intellektuellen offensichtlich ungerecht wäre.
Der Jubel für Günter Grass drückt die Sehnsucht aus, endlich wieder so unverkrampft nur über Deutsche flennen zu dürfen wie damals, als der Film über den Untergang der “Wilhelm Gustloff” die Kinos füllte, und auch der Streifen “Suchkind 312” zu ausverkauften Häusern führte, litt man doch mit dem Wurm, der auf dem Treck in Ostpreußen verloren ging und der seinen Vati, weil die kriegsverbrecherischen Russen ihn in Gefangenschaft hielten, erst so spät wiederfand. Auch das “Ännchen von Tharau”, aus Ostpreußen, das den kleinen Utz, der seine Mutter verloren hatte, unter ihre Fittiche nahm, rührte die Menschen, die in der Woche darauf sich “Glocken der Heimat” anschauten um zu bewundern, wie der liebenswürdige Baron seine tapferen Schlesier nach Bayern führte, um die Ärmel aufzukrempeln, wie Rudolf Prack und Sonja Ziemann in “Grün ist die Heide”, wo die leidgeprüfte Tochter eines vertriebenen pommerschen Gutsbesitzers neunzehn Millionen Zuschauern Sturzbäche aus den Tränendrüsen lockte.
Man musste sich weder von der Botschaft noch von der Machart her umstellen, war doch zum Beispiel “Glocken der Heimat” von Wolfgang Liebeneier, der unter Goebbels die UFA geleitet und mit “Ich klage an” den großen Euthanasie-Film für die Nazis gedreht hatte.
Da deutsche Verbrechen im Publikumsfilm weder gezeigt noch auch nur angedeutet wurden, war der einzige unsympathische Nazi jener, der diese viel zu jungen, idealistisch-gutgläubigen Männer in Uniform zum Durchhalten zwang, als schon alles verloren war. “Hunde, wollt ihr ewig leben” und “Die Brücke” hießen die Streifen, die auf diesem Wege Deutsche über Deutsche trauern ließen. Die Zeit, der die heutige Sehnsucht gilt, ist jene, in der die Trauer um die Landsleute noch nicht durch den Vernichtungskrieg und Auschwitz relativiert wurde. Nie hat es später mehr gegeben als diese Relativierung, so eine Ausgewogenheit der öffentlichen Redeweise, die man nicht schätzte, sondern sich antat, wegen Ansehen im Ausland und außenpolitischer Notwendigkeit.
Auch wenn sie sein verspätetes Erscheinen rügt, so lobt die Chefin der Vertriebenen den Grass, was undenkbar wäre, käme im Krebsgang vor, was zeitgleich in der Region so los war. Also etwa, dass am 26. Januar, vier Tage vor dem Untergang der “Gustloff”, das Auschwitz-Außenlager Stutthof von der SS aufgelöst und 13000 Häftlinge durch Ostpreußen getrieben wurden. Öffentlich, ungestört und unbehindert wird auf diesem Weg umgebracht, wer zu schwach für das Tempo ist, ungehörig erscheint oder wen die Mordlust trifft. In der Nacht zum 31. Januar, die “Gustloff” schwimmt seit einem Tag nicht mehr, werden 5000 Menschen, mehrheitlich jüdische Frauen, hingerichtet, massakriert und in die Ostsee getrieben. Von den 13 000 überlebt nicht einmal jeder Vierte. Dies zu bedenken ist wichtiger, als alles Bescheidwissen zur Frage, wie viele Soldaten, Matrosen und Geschütze auf der “Gustloff” waren.
Wenn denen kein Mitleid gebührt (ich spreche hier von nationaler, nicht von privater Trauer), die selbst kein Mitleid hatten mit denen, die vor der vorrückenden Wehrmacht flohen, kein Mitleid mit den Insassen von Stutthof und keine Hilfe versuchten, als diese durch die Kälte getrieben wurden – dann sinkt die Zahl der Unschuldigen auf der “Gustloff” rapide.
Der Jubel um Grass hat natürlich einen zweiten Grund; er gilt auch dem Anschluss eines Verdächtigen ans nationale Kollektiv der Gleichgesinnten, dem Erlöschen der Abweichung schlechthin.
Dass dieser Verdacht immer ein unbegründeter gewesen sei, man stets der Bessere und nie ein Patriot sein wollte, erklären alle “kritischen Intellektuellen” bei ihrer Heimkehr. Einige müssen biografisch schummeln, aber nicht Grass, den nehme ich in Schutz, ist er doch nicht erst 2002 für eine Bundeskulturstiftung eingetreten, sondern, vom Ahnen aller Patrioten, von Herder angestiftet
“war ich vor dreißig Jahren so kühn, von dem missachteten Begriff Nation Besitz zu ergreifen”.
Was alle damals ächteten wie ein Stück Scheiße, ging in seinen Besitz:
“Ich fordere die ernsthafte Erforschung aussterbender Dialekte”,
hatte er der deutschen Brauchtumspflege eine Bresche geschlagen. Und damit die Dialekte nicht untergehen und auch sonst niemand vergisst, wo er wieder hinzuwollen hat, kam ihm die Idee ethnisch reinster Zusammenrottungen in Hunsrück, Eifel und Westerwald. Nach Landsmannschaften sortiert ging es ihm um
“die Gründung lebensfähiger ... Städte, die Neu-Königsberg, Neu-Allenstein, Neu-Breslau, Neu-Görlitz und Neu-Danzig heißen”.
Das war 1965, als er (der dies kürzlich nachdrucken ließ), die CDU verdächtigte, dass sie
“aus wahltaktischen Gründen die Wiedervereinigung hintertreibe”,
während die SPD und ganz besonders er, zu (vorübergehenden) Konzessionen bereit sei. Allerdings nicht zur Anerkennung der Westgrenze Polens.
“Vielleicht finden sich in der nächsten Bundesregierung ... Politiker, die auf der Basis eines Friedensvertrages zu verhandeln verstehen, denn über den Verbleib von Stettin und über den Lausitzzipfel waren sich die Siegermächte in Jalta und Potsdam nicht einig.”
Wer so, ob das nun realistisch war oder nicht, um jeden Quadratmeter Lausitzzipfel ringt, der wird, wenn ihm das realistisch dünkt, sich mit Stettin nicht bescheiden. Literaten schreiben dann einen neuen, zeitgemäßen Roman.
“Der Blick nach Osten wurde frei”,
dankt der “Spiegel” dem Grass, und die “FAZ” sieht bald schon
“Königsberg als Teil Europas, nicht mehr Russlands”.
Der Lausitzzipfel? Diese anmaßende Bescheidenheit ist lange vorbei!

Thomas Ebermann