Wozu schweigen, worüber sprechen?

Vorauseilende und nachholende Bemerkungen zum Sprechen über die befreite Gesellschaft

Zwei Monate ist der Erste Weltkrieg bereits im Gange, als Karl Kraus in Wien eine Rede mit dem Titel »In dieser großen Zeit« hält. Wenig später wird sie in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel abgedruckt. Über den Krieg und die ihm anhängige nationalistische Begeisterung hätte es einiges zu sagen gegeben, auch wenn seine Dimensionen – ein sinnloses Abschlachten von Menschenmaterial, das bis heute die unzulässig verlängerte und verdoppelte historische Folie jedes Pazifismus darstellt – damals noch nicht überschaubar waren. Doch genau das tut Kraus nicht. Keine alternative Analyse des Krieges ist zu finden, kein eigener Beitrag im Wettstreit der Berichterstattungen. Stattdessen beginnt Kraus seine Rede mit der Begründung eines Schweigens: »...in dieser lauten Zeit, die dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück.« Karl Kraus, In dieser großen Zeit, Ausgewählte Werke 2, Berlin 1971, 9. Gut ein Jahr später, 1915, versieht Kraus diese Begründung mit einem Kontrapunkt, ja einer Relativierung: »Das Schweigen war nicht Ehrfurcht vor solcher Tat, hinter der das Wort, wofern es noch eins ist, noch zurücksteht. [...] Und das Schweigen war so laut, daß es fast schon Sprache war. Nun fielen die Fesseln, denn die Fesseln selbst spürten, daß das Wort stärker sei.« Kraus musste sich wieder hörbar machen, »und wäre es nur, um zu bewiesen, daß die Sprache selbst noch nicht erstickt sei.« Ders., Schweigen, Wort und Tat, ebd., 31.

Was war geschehen? Kraus hatte mit Beginn des Krieges keinesfalls im strengen Sinne des Wortes »geschwiegen«. Die Fackel wurde nicht etwa eingestellt, nur beschränkte sie sich darauf, selbst nicht über den Krieg zu berichten, sondern andere Berichterstattungen und die allgemeine Kriegsbegeisterung polemisch zu kritisieren. Und trotzdem muss es einen Moment gegeben haben, an dem Kraus wieder expliziter werden musste. Aus dem Schweigen musste wieder Sprache werden und das hieß, aus der Defensive – die sich lediglich vor Missdeutung schützte – in die Offensive zu gehen.

Dies mag als Einstieg dienen für eine Reflexion auf die Frage, was es bedeutet, über, sagen wir, »große Dinge« zu sprechen oder, um genau zu sein, über jenes Größte, das eine Linke interessiert oder zu interessieren hat: die befreite Gesellschaft. Nicht nur, worin die politischen und erkenntnistheoretischen Dimensionen des Sprechens über die befreite Gesellschaft bestehen, soll hier interessieren, sondern auch der derzeitige Stand des Streits: Schweigen oder Sprechen.

Nun ist der Gegenstand über den jeweils gesprochen wird – bei Kraus der Massenmord, hier die befreite Gesellschaft – natürlich nicht derselbe. Sie sind aber auch nicht völlig getrennt. Schließlich wird sich zeigen, dass es nicht zuletzt die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts waren, die zu einem allgemeinen Zweifel an der Macht des Wortes geführt haben. Anknüpfungspunkte finden sich aber auch hinsichtlich der Frage, ob es angemessener sei, über die befreite Gesellschaft zu schweigen oder sie sprachlich und imaginierend in Teilen vorwegzunehmen: Ist nicht das, der Kritischen Theorie entlehnte, »Bilderverbot« eine Art des Schweigens, das gerade nur soviel sagt, um sich selbst vor Missdeutung zu bewahren? Ist nicht der Gedanke nachvollziehbar, dass in der Verbalisierung sowohl des Grauens als auch des guten Lebens die Sprache an ihre Grenzen gerät? Und zielt nicht der Schwerpunkt dieser Ausgabe der Phase 2 darauf ab, gerade über dieses Bilderverbot und jenes Sprachversagen, wenn es denn eins ist, ein Stück hinauszugehen? So gesehen geben die Krausschen Sätze zumindest Fragen an die Hand für eine notwendige Vorbetrachtung, also das, wofür die Philosophie das sperrige Wort »Prolegomenon« bereithält: Wie wird eigentlich über die befreite Gesellschaft gesprochen? Was wäre ein adäquates Verhältnis der Sprache zu Belangen, die der praktischen Reichweite entzogen sind? Wann ist rhetorische Enthaltsamkeit geboten und warum? Was könnte das Sprechen schließlich (wieder) motivieren? Und wo schlägt Enthaltsamkeit in lähmende Sprachlosigkeit um?

Name, Begriff, Code

 Der Dreischritt Name, Begriff, Code soll im Folgenden eine Art Koordinatensystem bilden für die Beantwortung der Frage, wie eigentlich über die befreite Gesellschaft gesprochen wird und wurde – im Bewusstsein der Tatsache, dass analytische Trennungen der Wirklichkeit selten passgenau entsprechen. Dennoch vermögen solcherlei Unterscheidungen durchaus zu zeigen, dass die Rede über jenes Größte, was es zu erreichen gilt, mehrdimensional und in ihrer Funktion differenziert ist. Beginnt man mit der ersten Kategorie – den Namen – so ist augenscheinlich, dass der befreiten Gesellschaft derer viele eigen sind. In einem Bonmot, das zu schön ist, um es zu übersetzen, brachte es der amerikanische Kritiker Irving Howe auf den Punkt: »Socialism is the name of our desire«. Historisch ist das jedoch nicht der einzige Name für die befreite Gesellschaft. Aus dem 16. Jahrhundert stammt das Wort von der Utopie, dem Nicht-Ort oder dem Noch-nicht-Ort, der auf jeder Landkarte, so Oscar Wilde, verzeichnet sein sollte. Vgl. Oscar Wilde, Die Seele des Menschen im Sozialismus, Zürich 1970, 35. Karl Marx wiederum gab der Utopie den wohl bis heute eindrücklichsten und vielleicht in jeder Hinsicht belastenden und belasteten Namen des »Kommunismus«. Im Geiste der Kritischen Theorie kristallisieren sich ähnliche Vorstellungen in Worten wie »Versöhnung«, »Glück« oder »das ganz Andere«.

 Wenn diese und andere Worte hier als Namen klassifiziert werden, so geschieht das, um einen Unterschied deutlich zu machen: eine Differenz zum eher begrifflichen Sprechen über die befreite Gesellschaft. Dabei ist zunächst unerheblich, ob diese Namen bewusst gewählt werden oder qua Tradition überliefert sind. Ebenso unerheblich ist die Frage, ob sich hinter den Namen jeweils haargenau dieselbe Vorstellung verbirgt. Was interessiert, ist die erkenntnistheoretische Dimension und Funktion dieser Namen. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sich in ihnen ganz punktuell die Idee eines von der gegenwärtigen Gesellschaft radikal unterschiedenen Lebens zusammenzieht. Der Name soll in seiner Prägnanz das Sprechen quasi verkürzen; es braucht nichts anderes als die Nennung desselben. Als ein derart in einem Wort zusammengezogener Assoziationsraum eröffnet der Name im Individuum durchaus subjektive Vorstellungswelten. Würde man versuchen, diese in die Form eines Satzes zu bringen, bliebe die Versprachlichung vermutlich weit hinter der zugrunde liegenden Vorstellung zurück. Folgt man der Idee des Namens, wie sie beispielsweise bei Adorno artikuliert wird, dann wären die Namen utopisch in folgendem Sinne: Sie möchten eine Sache ganz, unverkürzt und in gewisser Weise unmittelbar zum Ausdruck bringen. Vgl. Rolf Tiedemann, Begriff, Bild, Name – Über Adornos Utopie von Erkenntnis, in: Michael Löbig/Gerhard Schweppenhäuser (Hrsg.), Hamburger Adorno-Symposion, Lüneburg 1984, 77ff. Etwas anderes, jedoch nicht vollkommen gegensätzliches, ist das Sprechen über das utopische Etwas im Modus des Begriffs; hier bewegen wir uns im Bereich der Reflexion. Hier finden sich zwar eindrückliche, aber in gewisser Weise auch abstrakte, ja sterile Begriffskonstruktionen wie »befreite Gesellschaft« oder »freie Assoziation« (Marx), philosophierende Ausdrücke wie das »Gemeinsame« (Antonio Negri/Michael Hardt) oder Negativ-Konzepte à la »Jenseits von Staat und Kapital«. Deutlicher als beim Namen sind in diese Begriffe inhaltliche Vorentscheidungen eingegangen und manchmal sind es gerade diese Vorentscheidungen, die dazu führen, dass ein solcher Begriff eine Nachfrage förmlich erzwingt, beispielsweise: Befreiung wovon? Nicht dass nicht auch die Namen als solche erklärungsbedürftig wären. Aber der Name unterscheidet sich vom Begriff in dem, was er zum Ausdruck bringen möchte und was er im Subjekt, eher affektiv als reflexiv, auslöst.

Begriffe sind im philosophischen Sinne sprachliche Merkmalscontainer. Das waren sie nicht immer, doch die nominalistische Moderne – für die Begriffe eben austauschbar und willkürlich sind – reklamiert eben dieses Verständnis von Begriffen und zwar in der Überzeugung, so dem Gemeinten ganz und ohne Rest habhaft zu werden. Hier setzt die Kritische Theorie an, allerdings mit einer Reflexion weniger auf die Sache, als auf dasjenige am Begriff, das diesen vollen Zugang versperrt. Sie beharrt darauf, dass ein Begriff seinem Gegenstand niemals gerecht werden kann, dass in der sprachlichen Fixierung ein Gewaltmoment liegt, in dem die Sache immer schon zugerichtet wird. An diesem Punkt lässt sich vielleicht deutlicher machen, was mit der Unterscheidung von Name und Begriff gemeint ist. Der Name bezieht sich auf etwas Singuläres und möchte dieses in seiner ganzen, noch nicht begrifflich zergliederten Komplexität zum Ausdruck bringen. Der Intention nach und überspitzt gesprochen: das Wort will die Sache selbst sein. Der Begriff hingegen schneidet ab. Auf der Basis bestimmter Vorentscheidungen geht in ihn ein, was genau begrifflich gefasst werden soll, wobei zwangsläufig abstrahiert werden muss. Begriff und Name stehen also in einem Verhältnis. Einerseits kommt das Denken, Sprechen und Schreiben niemals ohne die Begriffe und ihre notwendigen Verkürzungen aus. Andererseits hält der Name die stillschweigende Intention jeder begrifflichen Reflexion, die Idee einer Identität von Begriff und Sache fest. Unmittelbar ist diese Identität kaum zu haben, weswegen der Assoziationsraum, den die Namen der befreiten Gesellschaft wachrufen, notwendig vage und immer auch subjektiv bleibt.

 Sind Begriffe also notwendig abstrakt, stellt der Name das Idealbild der Konkretion dar. Dieses Verständnis des Namens zeigt sich vor allem in der Praxis der Benennung von Menschen. Die Benennung mit Vor- und Nachnamen soll eine Partikularität zum Ausdruck bringen, die der Intention nach schlicht unverwechselbar sein soll. Und tatsächlich sind Namen – im Bezug auf Menschen zunächst der Familienname – historisch ein Produkt der Individualisierung. Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, Stuttgart 1992, 136f. Erst im 11. Jahrhundert beginnt sich in Europa durchzusetzen, die Individuen nicht nur mit einem relativ willkürlichen Vornamen zu belegen (ein Name wie Sixtus – der sechste Sohn – zeigt, wie es hier mit der Individualität bestellt war), sondern auch mit einem die Generationen überdauernden Nachnamen. Die Menschen gewannen so eine größere Wahrnehmbarkeit, die durchaus politische Relevanz hatte; erst mit einem individuellen Vornamen und einem auf Geschichte verweisenden Familiennamen, erhalten sie einen festen Punkt im historischen Kontinuum. Die Namen stemmen gegen die Zeit, indem sie in beständigem Wandel etwas Kontinuierliches fixieren möchten. So geht auch im Bezug auf die befreite Gesellschaft in den Namen nicht nur ein vom Begriff abgesetztes Aktivierungspotential ein, sondern auch ein konstanzstiftendes Moment von Geschichte. Letzteres hält gegen die Geschichte als Katastrophe die Idee einer besseren Gesellschaft. Ersteres meint die Möglichkeit, im Subjekt, das den Namen spricht, schreibt oder hört, etwas Partikulares anzusprechen, das auf diese Idee hinzielt. Am Beispiel des Eigennamens: Vorausgesetzt, jemand kennt den benannten Menschen, so schießen sofort eine Reihe von Eigenschaften und Assoziationen zusammen, die diesen Jemand aus der chaotischen Mannigfaltigkeit der Welt herausheben. Wohlgemerkt: nur wenn jemand diesen Menschen kennt.

Für die Namen der befreiten Gesellschaft gilt das vice versa. Gibt es keine persönliche Beziehung zum Assoziationsraum dieser Namen, hallt beim Klang von »Glück« oder »Freiheit« nichts im Subjekt wider, dann bleiben die Namen leer und stumm. Daraus lässt sich einiges ableiten. Ohne ein, nennen wir es für den Moment kommunistisches Begehren, eine empfundene Mangelsituation der Gegenwart, in der die Behebung dieses Mangels weit über das hinausgehen müsste, was Therapie, Reform und Erbauungsliteratur als Auswege liefern, haben die Namen der befreiten Gesellschaft keinen Sinn. »Sinn machen« heißt in diesem Fall nichts anderes, als dass es einen Impuls, nicht einmal eine Anweisung, für die Praxis gibt. Erst wenn Individuen auf der Grundlage ihres singulären Begehrens zusammenkommen, erst dann wird sich auch wieder darüber sprechen lassen, was »Bewegung« heißt.

 Gerade weil Begriffe aufgrund der ihnen notwendig anhängigen Abstraktion ihre eigenen Fragen erzwingen, liegt in ihnen das Potential einer tatsächlichen Reflexion auf den verhandelten Gegenstand. Anders als der Name wirkt der Begriff – so er noch nicht zum Schlagwort verkommen ist – eher entschleunigend als animierend; darauf spielt der Adorno-Satz an »Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend.« Theodor W. Adorno, Resignation, Gesammelte Schriften 10.2., Darmstadt 1998, 798.  Freilich schweben weder die Namen noch die Begriffe im luftleeren Raum. Dies schon allein deshalb, weil sie einer mehr oder weniger abgegrenzten Sprach- und Praxisgemeinschaft angehören, in der jede Rede in ihrer Funktion mehr darstellt, als nur die Versprachlichung eines Gegenstands. Begriffe und Namen unterliegen der bedauerlichen Tendenz, eben auch Duftmarken zu sein, mit denen man seinen Ort innerhalb und außerhalb der Sprachgemeinschaft markiert. Mit anderen Worten, sie funktionieren ebenso als Code. Was historisch durchaus ein Fortschritt war, nämlich die Versicherung der eigenen Identität über den Namen, schlägt in der Linken heute zunehmend in ein gesteigertes und inhaltsleeres Distinktionsbedürfnis um. Statt an etwas Individuelles, appellieren Name und Begriff dann an das Dumpfe, das vage Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein. Dahin tendiert zumindest ein so infantiler und zur bloß abstrakten Negativ-Bekundung verkommener Slogan wie »Staat. Nation. Kapital. Scheisse.« (...Ums Ganze!), auch wenn es dabei nicht um die Versprachlichung einer Vorstellung über die befreite Gesellschaft geht. Deutlich wird die Leere, die Namen und Begriffen als Code eigen ist schließlich in dem obligatorischen »Für den Kommunismus« auf den Flugblättern zwischen Wanne-Eickel und Niederwürschnitz. Sei es die Kritik der bestehenden Gesellschaft oder der Verweis auf die befreite: In ihrer Verschleißform handelt es sich um im Stil der Reklame verfasste Buzz-Words, also Mittel der Distinktion, deren identitätspolitischer Mehrwert früher oder später seine Wirkung einbüßt.

Sprechen oder Schweigen

In diesem Rahmen spielt sich auch die untergründige – weil selten explizit werdende – Diskussion über die angemessene Form des Sprechens über die befreite Gesellschaft ab. Natürlich ist die Opposition zwischen Schweigen oder Sprechen zunächst einmal irreführend. Vielmehr handelt es sich um den Streit darüber, wie über den Kommunismus richtig zu sprechen wäre. Wir haben es also mit einer Debatte zwischen Positionen zu tun, die sich in unterschiedlicher Weise einer utopischen Perspektive verpflichtet fühlen. Diese Einschränkung ist deswegen zu betonen, weil die Argumente gegen eine wie auch immer geartete bürgerliche, liberale oder konservative Haltung, die die Utopie per se unter Totalitarismusverdacht stellt, an dieser Stelle nicht referiert werden sollen. Nun wäre der oben angesprochene Verschleiß von Begriff und Name zu identitärem Geplauder sowohl ein Argument für ein »beredtes Schweigen« (Walter Benjamin über Karl Kraus) als auch für die Anstrengung, über die befreite Gesellschaft zu reflektieren, um so die Begriffe zu redynamisieren. Was sind also die Gründe für das Schweigen einerseits und das Sprechen anderseits?

Wer im Kontext der Linken für rhetorische Enthaltsamkeit plädiert – mit oder ohne Erwähnung des Bilderverbotes –, tut es meist mit Verweis auf die praktisch gewordene Verwirklichung der Utopie im Stalinismus und Staatssozialismus, auf die derzeit verstellte emanzipatorische Perspektive, den autoritären oder zu gegenwartsbezogenen Zügen eines »Auspinselns der Utopie« (Adorno). Dies kann eine Abkehr vom Begriff des Kommunismus bedeuten, eine Konzentration auf das Tagesgeschäft – weil Befreiung im Moment unmöglich sei –, eine Kritik realitätsferner Utopieseligkeit oder die Verschiebung des utopischen Gedankens in einen autonomen Bereich, vornehmlich den der Kunst, verstanden als Refugium. All diese Aspekte sind zunächst politischer Art und sind als solche zu diskutieren. Sie beruhen vornehmlich auf einer bestimmten Einschätzung der Vergangenheit, dem Verhältnis der kommunistischen Idee und ihrer historischen Realisierung, einer Evaluierung dessen, was im Moment auf der »Tagesordnung« stehen müsse und einer differierenden Haltung gegenüber den derzeitigen praktischen Handlungsmöglichkeiten. So muss im Bezug auf das, was jeweils unter ein Bilderverbot gestellt wird sorgfältig unterschieden werden: Es ist eine Sache, darauf zu beharren, dass sich die Gestalt der befreiten Gesellschaft nicht en détail vorwegnehmen lässt. Das stimmt – grenzt allerdings an eine Banalität und wird so wohl von kaum jemandem vertreten. Werden jedoch aus der Gegenwart jene Elemente zur Bebilderung der Utopie gewählt, die auf ein eher regressives Bild von Befreiung verweisen, so ist das zu Recht zu kritisieren, auch wenn diese Kritik nur bedingt ein Bilderverbot benötigt. Eine andere Sache wiederum ist es, den Moment des Übergangs nicht begrifflich fixieren, vorwegnehmen oder herbeireden zu wollen. Dieser Einwand ist richtig, sofern er sich auf die prinzipielle Offenheit der Geschichte, die Grenzen der aktuellen Handlungsmöglichkeiten oder auf tatsächlich barbarische Vorstellungen von Revolution bezieht. Er wird falsch, wenn er die Befreiung als dem menschlichen Handeln gänzlich entzogen darstellt.

 Für jenes »beredte Schweigen«, von dem weiter oben schon die Rede war, gilt außerdem dieselbe Gefahr wie für die Namen und Begriffe, mit denen man die befreite Gesellschaft belegt: ihre Regression zum Code. Wenn mit radical chic auf die Unableitbarkeit des Kommunismus verwiesen wird, wenn man irgendwo das Wort Messianismus aufgeschnappt hat und das »ganz Andere« zur billigen Phrase geworden ist, dann handelt es sich um eine Pose, die den Anschein von Radikalität bewahrt, obgleich für sie gilt, was Robert Musil einmal lakonisch verallgemeinerte: »Niemand, der vom Größten und Wichtigsten der Welt spricht, meint, daß es das wirklich gäbe.« Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1987, 94. Aber das muss nicht sein und wo das Beharren auf dem Bilderverbot ernst gemeint ist, ist es auch ernst zu nehmen. Als »beredtes Schweigen« ordnet es sich ein in eines der zentralen Merkmale des 20. Jahrhunderts: der selbst sprachlich verfassten Skepsis gegenüber der Sprache. Folgt man George Steiner, so zieht sich der »Rückzug aus dem Wort« sowohl durch die Literatur als auch die Wissenschaften. Vgl. zum Folgenden George Steiner, Der Rückzug aus dem Wort, in: Ders., Sprache und Schweigen, Frankfurt a.M. 1973, 53-89. Während James Joyce noch einmal versuchte, an den Grenzen der englischen Sprache menschlicher Erfahrung habhaft zu werden, setzte Samuel Becketts Theater auf sprachliche Reduktion bis an den Rand der Sinnlosigkeit. In den Wissenschaften ist es der allseitige Drang zur Mathematisierung, der vom Verlust des Vertrauens in die Möglichkeiten der Sprache zeugt. Für all dies ließen sich Gründe historischer Erfahrung geltend machen. Sowohl der Erste Weltkrieg als eminenter Erfahrungsverlust als auch die Vernichtung der Juden als narrativloses Geschehen sperren sich gegen einen sprachoptimistischen Zugriff auf die Welt. Gerade das Bilderverbot ist nicht nur von diesem Zweifel dem Wort gegenüber inspiriert, sondern vor allem von der Fraglichkeit, die das emanzipatorische Versprechen seit Auschwitz begleitet. Daraus resultiert der Versuch – um die Formulierung von Karl Kraus wieder aufzunehmen –, das Schweigen selbst, aber vor allem das, worüber geschwiegen wird, vor der Missdeutung zu bewahren. So geht man davon aus, dass die zu Recht sich historisch durchhaltende Idee der Befreiung entweder in ihrer praktischen Umsetzung korrumpiert worden oder etwas radikal Anderes als alles Gewesene sei. Die Differenz von Schweigen und Sprechen im Bezug auf die befreite Gesellschaft, lässt sich vielleicht am Besten am Schicksal des Wortes »Kommunismus« verdeutlichen. Viel spricht dafür, dass das historische Unheil, das im Namen jener Idee angerichtet wurde, allen Grund bietet, sich von dem Begriff zu verabschieden. Gerade deswegen lässt sich auch daran zweifeln, ob dem »Kommunismus« immer noch jenes Potential, den emanzipatorischen Impuls wachzurufen, eigen ist. Wenn aber in diesem Namen der befreiten Gesellschaft sowohl ein utopischer Gehalt als auch die Erinnerung an die gewaltsame Geschichte seiner Realisierung aufgehoben sind, dann – so könnte man auch argumentieren – gäbe es Gründe, an dem Begriff festzuhalten. Einer dieser Gründe liegt darin, dass denjenigen Neologismen, die den Namen »Kommunismus« ersetzen würden, ein Moment der Geschichtslosigkeit innewohnen könnte. Mit anderen Worten: die Gefahr des Verlusts von Erinnerung. Die Vorstellung, man könne mit der Geschichte vollständig brechen, wäre jener falsche Trost über das von Menschen verursachte Leid, gegen das sich das Bilderverbot der Kritischen Theorie unter anderem wendet. Reicht das aus, um weiter unbefangen mit dem Namen »Kommunismus« zu hantieren? Vermutlich nicht. Sowohl für die Unbefangenheit als auch über den geschichtsbewussten Umgang mit jenem Namen gilt deswegen vor allem eins: Man wird über ihn sprechen müssen.

Herbei-Warten oder Herbei-Reden

Ohne einem überzogenen Sprachidealismus das Wort zu reden – also der Vorstellung, dass wir erst durch Sprache die Welt erschaffen – kann über die befreite Gesellschaft zumindest eines gesagt werden: Im Stande der Unfreiheit ist sie uns lediglich in Wort und Vorstellung gegeben; auch dann, wenn die Analyse stets und ständig reale und konkrete Momente der Gesellschaft aufzeigen kann, in denen ein Glücksversprechen steckt oder wenigstens die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Jeder und jede Einzelne kann im Alltag Ansatzpunkte finden, die eine subjektive Vorstellung geben, wie es denn sein könnte, das Leben danach. Doch die im Moment vorweggenommene Befreiung kann eben nicht mehr sein als Induktionsmoment jenes Begehrens, das auf die wirkliche Emanzipation zielt. Das Bilderverbot hat nicht nur dort recht, wo Emanzipation sich wie ein noch grauerer Abglanz der Gegenwart ausnimmt, sondern auch dort, wo der vermeintliche Rückzug aus der Gesellschaft – sei es ins heimelige Eigenheim oder den Bauernhof – bereits als Abschlag auf den Kommunismus verstanden wird. Was die »wirkliche Emanzipation« ist, hängt wiederum davon ab, ob man sie eher als einbrechendes Ereignis – die stärkste Variante einer messianischen Revolutionstheorie – oder als praktisch herbeiführbaren, also auch vorbereitenden, reagierenden Prozess denkt.

 Weder auf das Induktionspotential der Namen für die befreite Gesellschaft, noch die notwendig abstrakten aber auf Reflexion und Debatte drängenden Begriffe wird deswegen zu verzichten sein. George Steiner berichtet in seinem Buch Sprache und Schweigen von der antiken Stadt Amyclae, südlich von Sparta. Als es Gerüchte über das Anrücken der den Bewohnern von Amyclae feindlich gesonnenen Dorer gab, so die Erzählung, verbot man per Gesetz, über diese zu sprechen. Das verordnete Schweigen führte schließlich dazu, dass die Stadt von ihren Feinden überrannt wurde. Diese Anekdote könnte ein Argument dafür liefern, warum es sinnvoll sein mag, ein Sprechen über die befreite Gesellschaft zu reanimieren und zwar deshalb, weil das unvorbereitete Hineinstolpern möglicherweise zunichte macht, was der historische Moment an Möglichkeiten bereithält. Einem Verständnis von Befreiung, das diese aber sowieso als unvorhergesehenen Einfall in die Wirklichkeit denkt und nicht als bewusst herbeigeführten Prozess, der eben auch ein Minimales an Voraussicht impliziert, wird dieses Sprechen fremd sein. Denn an dasjenige, was ganz anders ist, als alles, was wir vorher kannten, reicht Sprache tatsächlich immer nur ungenügend heran. Wohlgemerkt gilt es hier zu trennen: Wenig spricht dafür, dass sich der Moment des Umschlags – so man Befreiung auf diese Art und Weise denkt – irgend durch Theorie, also Sprache, antizipieren lässt. Einiges spricht aber für ein Ausreizen der sprachlichen Möglichkeiten bezüglich der Induktion eines Begehrens, das diese Befreiung überhaupt möchte. Und wiederum einiges spricht für eine Diskussion darüber, wie die Gesellschaft beschaffen sein soll, in der man dann leben möchte. Dies kann sich kaum anders als im Hinblick auf historische Erfahrungen einerseits und die immanenten Möglichkeiten des Lebens, das im Jetzt geführt wird anderseits, vollziehen. Ob Debatten über handfeste Fragen der Koordination und der Organisation der befreiten Gesellschaft fruchtbar sein können, steht zu bezweifeln. Das schon allein deshalb, weil es ein Höchstmaß an Reflexion braucht, um mit der Gesellschaft über sie hinaus zu denken. Außerdem beruhen derlei Planspiele zumindest teilweise auf dem Verständnis, man müsste auf dem Markt der Gesellschaftsentwürfe einfach etwas in der Hand haben; quasi um mitspielen zu dürfen und so als ob es bloß eines Angebots bedürfe, das sich nicht ausschlagen lässt. Diesen Eindruck bekommt man bei der Lektüre des Gesprächs zwischen Raul Zelik und Elmar Altvater, dessen Radikalitätsgehalt mit jeder Seite stetig abnimmt und am Ende bei einer »Emanzipationsbewegung gegen, mit und im Staat« zu landen. Raul Zelik/Elmar Altvater, Die Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft, München 2009, 164. Um den Wunsch, in einer befreiten Gesellschaft leben zu wollen, wachzurufen, braucht es aber mehr als überzeugende Argumente bezüglich Effizienz, Gerechtigkeit und Vernünftigkeit der Gesellschaftsorganisation. Und um dieses »mehr« wachzurufen, gibt es zunächst keinen anderen Ansatzpunkt als diesen: das Individuum. Ausgehend davon wäre von dem Sprechen über den Kommunismus zuvorderst eine Übersetzungsleistung zu erbringen: von der einzelnen Erfahrung in ein allgemeines Projekt, in dem das Subjekt nicht negiert wird, sich aber in den anderen gleichwohl wieder erkennt. Und das ist vermutlich schon schwer genug.

~Von Robert Zwarg. Der Autor ist Mitglied der Gruppe in Gründung und der Phase 2 – Redaktion Leipzig.