*Dieser Beitrag setzt die Diskussion zwischen Felix Baum und Joachim Bruhn über die Bedeutung der Klassenfrage in der heutigen Zeit fort, die durch Baums Beitrag »Unkritische Theorie. Zur falschen Überwindung des ›traditionellen Marxismus‹«, in Phase 2.11, ausgelöst und durch die Erwiderung »Metaphysik der Klasse« von Joachim Bruhn, in Phase 2.12, fortgesetzt wurde.
So regelmäßig der Gedanke des Klassenkampfes auftaucht, so prompt wird er meist mit dem naheliegenden Einwand zurückgewiesen, Klassenkampf habe so gut nicht funktioniert. Melodramatisch wird daran erinnert, dass selbst die schlimmsten Untaten niemanden von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt haben. Ebenso wird das unmittelbar einleuchtende Argument ins Feld geführt, dass die psychologische Verfassung der kleinbürgerlich denkenden Arbeitermassen den Befreiungsakt aktuell als vollkommen abseitige, wissenschaftlich nicht begründbare Hypothese erscheinen lässt.
Genannter Streit wird meist fruchtlos geführt, da die Kontrahenten, welche in unserem Fall Felix Baum und Joachim Bruhn sind, nicht über ihren rohen Gegensatz hinauskommen. Weil die Gegner ihren Widerpart nicht als notwendiges Anti zur eigenen einseitigen Position erkennen, müssen sie dessen regelmäßiges Auftauchen als unerklärliche Zumutung empfinden und entsprechend schimpfen. Baum, der Propagandist des Klassenkampfes, kommt zur Ansicht, Bruhn befinde sich im bemitleidenswerten Stadium des »theoretischen Deliriums«, während umgekehrt Bruhn Baums Beharren auf der Möglichkeit der Revolution nach allem, was geschehen ist, als »zynisch« und »regelrecht reaktionär« empfindet. Es soll im Folgenden versucht werden, den Widerspruch als einen in der Sache liegenden zu reformulieren, ohne ihn lösen zu können.
I.
Beiden Parteien geht es ihrem Bekunden nach um den Kommunismus, verstanden als allgemeinmenschliche Emanzipation der Individuen im freien Verband. Auch führen beide einige Worte von Karl Marx an, um ihre Position gegen den anderen zu beweisen, wohl wissend, dass sie selbst noch auf tönernen Füßen stehen. Es ist nie verkehrt, einen der Alten als Autorität hinter sich zu wissen, ehe man den freien Gang wagt. Zudem hat man sich hier auf eine gemeinsame Grundlage geeinigtStrittig ist die chemische Zusammensetzung der beiden hauptsächlichen Momente dieser Grundlage. Man hat zum einen den wissenschaftlichen Marx des Kapitals und zum anderen den revolutionären Marx des Kommunistischen Manifestes ausgemacht, wobei alle Versuche, die beiden Momente auf den frühen und späten Marx zu verteilen, gescheitert sind. Da ihr Verhältnis weiterhin ungeklärt ist, gerät noch vieles durcheinander: Bruhn bezieht sich zwar auf das Kapital und die darin implizierte katastrophische Zuspitzung einer scheinbar mit sich selbst identischen Gattung und wirft Baum vor, er würde sich am revolutionären Pathos der Frühschriften berauschen. Umgekehrt schimpft er Baum aber auch einen Soziologen, ergo Wissenschaftler, während Baum sich wiederum über Bruhns Phrasen von der »vermittlungslosen Feindschaft« etc. mokiert, die dieser aus den Marxschen Sturm-und-Drang-Schriften abgeschrieben hat. Überhaupt tendieren alle derartigen Debatten dazu, dass die Kontrahenten sich gegenseitig dasselbe vorhalten. Genau dies immer wieder herauszuarbeiten wäre ein nächster Schritt: Es würde nicht länger immer der eine »Wald« sagen, wenn der andere nur »Bäume« sieht, und umgekehrt. , was die Verständigung untereinander ebenso erleichtert, wie es der Debatte insgesamt wenigstens den Schein der Objektivität verleiht. In Hoffnung auf Verständigung auch hier ein wenig Philologie, angefangen mit der klassischen Definition des zu bewerkstelligenden Kunststücks durch Karl Marx und Friedrich Engels: »Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur, um zu ihrer Selbstbestätigung zu kommen, sondern überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen.[…] Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst.«Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, 67f. Das anvisierte Vorhaben würde nicht nur sämtliche Beziehungen zwischen den Menschen sowie deren geistige Vermittlung grundlegend ändern, sondern zugleich würde das komplette Erdenrund eine viel tiefgreifendere menschliche Umformung erfahren, als selbst unter dem Kommando der Bourgeoisie. Damit ginge auch eine radikale Wandlung der inneren Komposition des Menschen sowie der Reflexion der Natur einher, welche heute unter der Form des Gesetzes oder als Poesie erscheint.
II.
Bewerkstelligt sollte das soeben skizzierte Unterfangen durch diejenigen werden, die bisher von der Verfügungsgewalt über die Produktion ausgeschlossen werden, dem Proletariat, welches sich im revolutionären Prozess mit der Philosophie vereinigt und den falschen Trennungen wie deren falscher Einheit ein Ende bereitet. Karl Marx formuliert programmatisch und pathetisch: »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen. [...] Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie. Ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.«Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1956, 391. Der Kopf gibt der Hand den Begriff dessen, was ist, und dessen, was sein muss; diese zuckt, und dann beginnt man sich zu vereinigen. Offenbar ein nicht reibungsloser, aber immerhin synthetischer Prozess. Weil es dabei zunächst in der Hauptsache darum geht, die Produktionswerkzeuge kollektiv in Besitz zu nehmen und diese dazu denen entrissen werden müssen, die jetzt die Verfügungsgewalt über sie monopolisiert haben, nannte Marx diesen Kampf Klassenkampf (nicht etwa, weil es darum ginge, die Hand gegen den Kopf auszuspielen). Es spricht nichts dagegen, es auch weiterhin so zu handhaben und den schlechten Gebrauch des Begriffs eventuell zurückzuweisen.Man kommt nicht weit, wenn man einige Begriffe nicht mehr benutzen will, weil sie falsch oder sogar gemeingefährlich benutzt werden. Man könnte sich dann schlicht nicht mehr unterhalten, da sämtliche Begriffe nicht ordnungsgemäß eingesetzt werden, jedenfalls wenn man das einmal erreichte bürgerliche Niveau zum Maßstab nimmt.
Die Verwirrung um den Klassenkampf kommt auch daher, dass der Begriff von Marx in zweierlei Weise verwendet wurde. Zum einen bezeichnete er das letzte Gefecht, welches die entscheidende gesellschaftliche Veränderung herbeiführen wird. Zum andern nannte er aber auch die bloß partikularen Kämpfe so, die um dieses oder jenes Tagesziel zur Linderung der unmittelbaren Lebensnot geführt wurden. Letztere immanente Klassenkämpfe hat Marx weder erfunden noch propagiert; er fand sie schlicht als vor seinen Augen ablaufende Bewegung vor. Er hoffte auf eine Dialektik von Reform und Revolution, welche die beschränkten Kämpfe über sich selbst hinaustreibt und schließlich in die allgemeinmenschliche Emanzipation umschlagen lassen wird. Voraussetzung dafür ist, dass solche spontanen Klassenkämpfe überhaupt stattfinden und außerdem ein Gedächtnis vorhanden ist, welches die Arbeiter dazu bringt, den Kampf auf ein höheres Niveau zu heben. Fehlt die Voraussetzung, so sind nach dem traditionellen Konzept auch die Revolutionäre verloren, da kein Teig existiert, in dem sie als Hefe fungieren können. Ohne Klassenkampf im profan-alltäglichen Verstand war auch an den Klassenkampf im gattungsgeschichtlich-epochalen Sinne nicht zu denken, es sei denn, man glaubt an ein urplötzliches Hinüberspringen in den Kommunismus aus dem Stand. Es gibt heute keine Dialektik von Revolution und Reform, und entsprechend wirken heute Revolutionäre und Reformer.
III.
Die Idee der universellen Emanzipation ist nicht aus der zivilisierten Welt zu tilgen und so treibt auch der moderne Kapitalismus immer wieder marxistische Clubs hervor, welche die Proleten immer noch zur Sonne und Freiheit streben sehen wollen. Da auch diese Gruppen wissen, dass ihr potentielles Subjekt bisher nicht das Gewünschte vollbracht hat, zerfallen sie in zahlreiche Fraktionen, die sich oft an historischen Strömungen orientieren, von denen dann gesagt wird, sie hätten sich durchsetzen sollen bzw. in deren Fußstapfen man nun treten müsse. Felix Baum hält sich an die kleine rätekommunistische Tradition und an die Kämpfe, die Arbeiter in Frankreich und Italien während der sechziger und siebziger Jahre führten. Man solle nicht den Klassenkampf totreden und sich besser darum kümmern, dass er wieder stattfindet. Baum attestiert über den italienischen Strohmann Panzieri dem gegenwärtigen Kapitalismus potentiell systemsprengenden Charakter. Die Arbeiter seien zwar integriert, aber es gäbe auch neue Möglichkeiten der Systemüberwindung. Überhaupt sei dadurch, dass die Vielen gezwungen sind, für ihre Subsistenzmittel ihre Arbeit zu verkaufen, eine Spannung gesetzt: Die Arbeitenden würden einen Teil ihrer Lebenszeit verkaufen und so sich mit ihrer Formbestimmtheit nicht eins fühlen und denken können. Die ganze potentiell revolutionäre Subjektivität läge in Gestalt der Arbeiter vor und daher solle man nicht sagen, sie seien nur Dinge, über welche die heads of human resources verfügen wie über andere Rohstoffe. Dagegen der Nachweis durch Bruhn, dass Baum verdinglicht denkt, ergo ein Holzkopf ist. Man wisse zwar bei der Kassiererin des Marktes nicht genau, wie es mit ihrer Subjektivität bestellt sei, aber bei Baum wisse man, dass er ein Soziologe ist und damit keineswegs in der Lage, begründete Hoffnung auf Revolution zu erzeugen. Deren Chance hat Bruhn streng wissenschaftlich ausgerechnet und sie mit 0,0 Prozent auch korrekt angegeben. Er ist der bessere Positivist und schimpft deshalb Baum einen Westentaschenmetaphysiker, welcher dem Proletariat eine Seele zuspricht. Der aktuelle Weltzustand sei aber mechanisch zu beschreiben und keinesfalls solle dem als »bedeutungsloses Nichts bloßer Natur« erscheinendem Individuum jetzt schon Leben zugesprochen werden. Weil Felix dies tue, sei er Vitalist.Glaubt man diversen Lehrbüchern, so wandte sich der Vitalismus gegen die Auffassung, Natur ließe sich auf Mechanik reduzieren und ausrechnen. Laplace z. B. nahm an, dass ein Dämon, der imstande wäre, den ganzen gegenwärtigen Zustand der Welt in sämtlichen Bestimmungsstücken zu kennen, aus dieser Kenntnis den ganzen zukünftigen Ablauf der Welt berechnen könnte. Dagegen setzen die Vitalisten in Nachfolge des Aristoteles etwas in die organische Natur, was Entelechie genannt wird (entelechie: aus dem griech. en, »in«, telos, »Ziel« und echein, »haben«; »was sein Ziel in sich selbst hat«). Dieses sei ein über die bloße Natur hinausgehendes, die Körper belebendes, aktives Prinzip. Jetzt von Klassenkampf zu reden sei »regelrecht reaktionär« und zeuge davon, dass man den Gang des Verhängnisses nicht wahr haben wolle, welches Bruhn die »historische Bewegung der Abstraktion« nennt, »an deren Ende das empirische Individuum nunmehr als so phänomenale wie ephemere ›Erscheinungsform des Genus Mensch‹, als Arbeitskraft und juristisches Subjekt, d.h. nackt und bloß dasteht«. Dieser Bewegung der »Matrix« (J. Butler) sei sein Club und auch er selbst ein Feind. Bruhn verbittet sich daher, das Resultat dessen, was er bekämpft, von jemandem angekreidet zu bekommen, der auch noch selbst Beweis für seine Diagnose sei. Er denkt deshalb die Revolution als vermittlungslosen, spontanen Akt, durch den die Gattung sich wie »Phönix aus der Asche« erhebt.Gegen nämliche Vorstellung hat Baum eine schöne Stelle des Professors Adorno angeführt, die Bruhn aber nicht der Kommentierung wert hält. (Bruhn ist kein resignierter S. Breuer,Felix Baum hatte geschrieben, Bruhns Analysen beruhten auf den Arbeiten Stefan Breuers, vor allem: Stefan Breuer, Die Krise der Revolutionstheorie, Frankfurt a.M. 1977. [Anm. d. Red.] sondern ein Vitalist auf der Lauer.)
IV.
Eine Möglichkeit, jenseits der üblichen Unterstellungen über das Problem der Klasse zu debattieren, wäre nach Bruhn die Untersuchung dieses Begriffs bei Marx. Zwei weitere Textstellen von Marx, die vielleicht den Streit erhellen, sollen daher angeführt werden: »Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im Übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber. Auf der anderen Seite verselbständigt sich die Klasse wieder gegen die Individuen, so daß diese ihre Lebensbedingungen prädestiniert vorfinden, von der Klasse ihre Lebensstellung und damit ihre persönliche Entwicklung angewiesen bekommen.«Marx und Engels, Deutsche Ideologie, 54. Es mag den Logiker mit einiger Berechtigung stören, aber Marx bietet zwei Klassenbegriffe an, einen subjektiven und einen objektiven. Zwar sind qua Stellung im Produktionsprozess die Arbeitermassen objektiv bereits eine einheitliche Klasse, aber seltsamerweise sind in der »Arbeiterklasse« die »Arbeiter« nicht handelndes Subjekt, sondern nur die »Klasse« näher bestimmendes Prädikat. Es handelt sich nicht um die Klasse der Arbeiter, sondern um die Arbeiter der Klasse. Nicht die besonderen Individuen sind das Bestimmende, welches das Allgemeine hervorbringt, sondern das verselbstständigte Allgemeine bringt die Individuen hervor. Dieses Verhältnis ändert sich erst, wenn zur Schmach der objektiven Klassenlage das Bewusstsein dieser Schmach hinzukommt und sich die atomisierten Produzenten zu vereinigen beginnen. Erst im Kampf konstituieren sich die Arbeitermassen auch subjektiv zu Klasse und verdienen es, Proletariat genannt zu werden. Indem sie Einsicht in ihre Seinslage gewinnen, beginnen sie diese zu ändern, womit sich das Verhältnis dreht: Die Massen, welche nur Objekt der Geschichte waren, beginnen sie zu schreiben und sich so tatsächlich zu individuieren. Der Zeitpunkt des vollkommenen Bewusstseins der Klasse über ihre Situation und der Moment der Aufhebung der Gattungsspaltung fallen unmittelbar zusammen, wie überhaupt Bewusstsein und Praxis zusammenfallen. Umgekehrt verhindert aber gerade die Verselbständigung der Klasse gegen die Individuen das Klassenbewusstsein, und es erfordert einige Mühe, sich der zentrifugalen Kräfte zum Trotz zu assoziieren und zur Vernunft zu kommen. Weiter Marx: »Die Konkurrenz isoliert die Individuen, nicht nur die Bourgeois, sondern noch mehr die Proletarier gegeneinander, trotzdem, daß sie sie zusammenbringt. Daher dauert es eine lange Zeit, bis diese Individuen sich vereinigen können [...] und daher ist jede organisierte Macht gegenüber diesen isolierten und in Verhältnissen, die die Isolierung täglich reproduzieren, lebenden Individuen erst nach langen Kämpfen zu besiegen. Das Gegenteil verlangen, hieße ebensoviel wie zu verlangen, daß die Konkurrenz in dieser bestimmten Geschichtsepoche nicht existieren soll oder daß die Individuen Verhältnisse, über die sie als Isolierte keine Kontrolle haben, sich aus dem Kopfe schlagen sollen.«Ebd., 61, Anm. Die Individuen von heute haben diese Verhältnisse aber nicht im Kopf, und schon gar nicht existiert positiv auch nur die Ahnung, dass man einen Kampf beginnen müsste. Diesen Zustand hat Bruhn im Sinn, wenn er schreibt, dass in der Produktion nicht mehr Kapital und Arbeitskraft aufeinandertreffen, sondern, weil die Arbeiter nur noch Ware sind, sei der Arbeitsprozess zu einem »Prozess zwischen Dingen« geworden. Das Kapital bezieht sich tautologisch nur auf sich selbst.Die empirischen Menschen seien eins mit ihrer Formbestimmtheit als variables Kapital und damit vollständig beschreibbar als Faktor v in der Kapitalformel. Zu allem Überfluss hat in der organischen Zusammensetzung des Kapitals inzwischen das capital fix den Faktor v einigermaßen zurückgedrängt, so dass die von der Totalität Erdrückten diese entweder gar nicht mehr wahrnehmen und sich eitel in den Mittelpunkt rücken; oder aber ihnen erscheint die Totalität als übermächtige, unbeeinflussbare Struktur (»Bewegung der Abstraktion«). Dadurch entsteht wohl auch der schroffe Gegensatz von »Nominalismus und Ontologie« (Bruhn) im Bewusstsein der denkenden Menschen. Die lebendige Subjektivität des Arbeiters steht vollständig in Dienste des Kapitals. Das, was man so Freizeit nennt, ist funktional auf die Arbeit bezogen. Dadurch wird der durch und durch reale Schein des Mechanismus erzeugt, welcher Bruhn dazu verleitet haben mag, völlig gedankenlos auf den Vitalismus zu schimpfen. Der Klassenbegriff hat aber, wie oben erwähnt, auch seine strikt zu nehmende objektive Seite, und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wie die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen verschwindet nicht einfach, weil aus objektiven Gründen »subjektiv der Klassenbegriff vergessen ist, wofern er die Massen je ergriffen hatte«Die Herrschaft der Bourgeoisie hat deren Abdankung ebenso überdauert wie das Patriarchat die Abdankung der Väter. Nur wäre zu debattieren, wie Herrschaft ohne Herrscher erscheint.. Wie Marx in den Ökonomisch-philosophisch Manuskripten deduziert, ist im Begriff der Lohnarbeit z. B. bereits enthalten, dass ein Mensch sich fremde Arbeit aneignet, und sei dies auch verschleiert durch den Äquivalententausch.
V.
Wenn nun erstens das Kapitalverhältnis ein antagonistisches Verhältnis zwischen Menschen sein muss und zweitens dies keiner merkt oder zumindest dies keinen stört, so hat man völliges Auseinanderfallen von Begriff und Sache. Statt sich bei Bruhn über das von diesem nicht verschuldete Verschwinden eines ausgetragenen Klassenantagonismus zu beklagen und einen Bürgerkrieg zu beschwören, an den keiner glaubt, muss man sich wohl oder übel darüber den Kopf zerbrechen, wo der von seinem angestammten Erscheinungsort in den Produktionsstätten verschwundene Antagonismus stattdessen hervorquillt, den Felix Baum - ehrenwert genug - nicht auch noch vergessen will. Andernfalls hielte man sich nicht an den recht vernünftigen Satz, wonach kein Wesen ist, welches nicht erscheint, und würde leicht der Metaphysik verdächtigt. Bruhn hat daher leichtes Spiel, wie überhaupt jeder seine Kontrahenten leicht widerlegen kann. Er argumentiert aber falsch und wirkt wie jemand, der sich auf dem Resultat seiner Denkbewegung ausruht, ohne zu merken, dass Stagnation selten geduldet wird. Baums Festhalten an der Revolution sei ein Hirngespinst und Westentaschenmetaphysik eines akademischen Genießers. Dagegen würde Bruhn sich der gesellschaftlichen Nullzeit stellen und keinerlei die tote Materie beseelenden Entelechien erfinden wie die elenden Vitalisten. Er bleibt darin aber inkonsequent, indem er behauptet, die Revolution bliebe weiterhin »überaus vernünftig«. Dies, obwohl gerade keine Praxis möglich wäre und Vernunft mit jener steht und fällt. So kann er Baum einen Reaktionär schimpfen, was seiner eigenen Diagnose widerspricht, weil die Reaktion die Progression voraussetzt. Obgleich er in anderen Worten sagt, dass gerade kein dramatischer Konflikt stattfindet, dichtet Bruhn dem Baum historische Qualität an, wobei er selbst die Seite des Fortschritts und der Vernunft für sich reklamiert. Die Vernunft erscheint als ein außer der Welt hockendes Wesen bzw. als ein in Bruhn hockendes Wesen. Die Kehrseite dieser Setzung ist die Beschreibung der aktuellen Gesellschaft als mechanische zweite Natur. Der innerweltliche Gegensatz von Vitalismus und Mechanismus kehrt so als einer zwischen Bruhn und der Welt wieder.
Ideologiekritik bestünde dagegen darin, den objektiven Schein der zweiten Natur zu durchbrechen, was nicht eben leicht ist. Zunächst muss gesagt werden, dass der Klassenantagonismus durch das Verschwinden seiner revolutionären Implikation kein »leerer Gegensatz« wird. Er ist wichtiges Schmiermittel des Systems, welches sich vermittels seiner Widersprüche erhält und, wichtiger noch: als ungewusster gerade Ursache ist für manch pathische Projektion, wenn auch manchmal über größere Umwege und deshalb nicht unmittelbar dechiffrierbar. Wäre der Antagonismus tatsächlich leer und die Menschen bloße Natur, es gäbe keinen Antisemitismus. Sie können es aber nicht werden, auch nicht, wenn man die Natur abgeleitete zweite Natur nennt. Vielmehr modeln sich die Individuen mit ihrem recht gut funktionierenden Verstand nach den Imperativen der allgemeinen unteilbaren Vernunft, die heute keine Transzendenz mehr kennt und die man daher auch Kapital nennen kann oder Gattungszwang. Dazu braucht der Einzelne Individualität, Subjektivität, Flexibilität: Vitalismus. Die Einzelnen stehen daher tatsächlich beständig unter Spannung, wenn auch durch systematischen Ausschluss und Projektion so etwas wie Identität aufrecht erhalten wird.Ebenso schafft es der Staat, den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft hinauszuschieben. Er garantiert beständig eine falsche Allgemeinheit, zu der die bürgerliche Gesellschaft aus sich selbst nicht kommen kann. Deswegen ist der Erlösungswunsch nicht aus der Welt zu verbannen, welcher vollends im Krisenfall als Tötungs- und Todeswunsch erscheint, sofern der Klassenantagonismus verdrängt bleibt. Blendet man diesen Zusammenhang zwischen antagonistischer Menschenwelt und Antisemitismus aus, kann man ihn nicht kritisieren. Oder um mit Adorno zu schließen: »Sogar die Veranstaltungen, welche die Gesellschaft trifft, um sich auszurotten, sind, als losgelassene, widersinnige Selbsterhaltung, zugleich ihrer selbst unbewußte Aktionen gegen das Leiden.«Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, 203. Warum sollte aber nackte Natur solche Veranstaltungen treffen?
KARL RAUSCHENBACH
Der Autor ist Mitglied der Gruppe Antideutsche Kommunisten Berlin.