Zustand mit Lücke

Ein Bericht zu aktuellen Debatten der Faschismusforschung

Der amerikanische Historiker Timothy W. Mason stellte kurz vor seinem Tod 1990 die Frage »Whatever happened to ›Fascism‹?«. Diese längst zu einem Bonmot gewordene Verwunderung über den Verbleib einer ehemals zentralen Kategorie gilt auch für jene Kreise, die traditionell für die Verwaltung des Begriffs zuständig waren: die Linken. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, das Einzige, was im linken Mainstream vom Begriff des Faschismus blieb, ist seine Negation im Antifaschismus, während er in ihren diversen kritischen Abspaltungen, wie auch der Phase 2, nur noch im Begriff des Islamofaschismus existent ist.So etwa in Phase 2 14/04 und vor allem 15/05. Um den Begriff in Erinnerung zu rufen, soll hier eine Tour d'Horizon durch einige aktuelle Publikationen der Faschismusforschung geboten werden, die schließlich auch der Frage nach einem religiösen Faschismus nachgeht.

Ein Blick in die Kataloge deutscher Bibliotheken zeigt, dass seit den achtziger Jahren der Begriff des Faschismus fast vollständig von den Buchtiteln verschwunden ist. Die historische Forschung verwendet ihn aufgrund der Differenzierung zwischen Nationalsozialismus und Faschismus nahezu nur noch in Bezug auf das Italien Mussolinis. Für die Untersuchung zeitgenössischer Phänomene bevorzugen Soziologie und Politologie den Begriff des Rechtsextremismus. Diesem liegt das normative Modell eines demokratisch-rechtstaatlichen ›Verfassungsbogens‹ zugrunde, der unter sich die demokratische Mitte mit ihrem linken und rechten Flügen vereint, dabei sogar deren ›radikale‹ Ausreißer zu integrieren vermag, aber den ›extremen‹ Varianten entschlossen entgegentritt. Das Modell entstammt dem totalitarismustheoretischen Denken der fünfziger Jahre, avancierte aber nach der deutschen Wiedervereinigung erneut zum Leitparadigma und ist heute auch für die Sicherheitsbehörden richtungsweisend. Sein wesentliches Moment ist die qualitative Gleichsetzung von links- und rechtsextrem aus ihrer Gegnerschaft zur bürgerlichen Demokratie heraus, ohne weitere inhaltliche Differenzierungen. Zwar findet sich solch ein Herangehen auch in der Faschismusforschung anderer Länder, es stellt aber nicht wie in Deutschland die Staatsdoktrin dar.

Die Einbettung der Analyse des Faschismus in eine kritische Theorie der Gesellschaft ist dagegen heute wie diese selbst selten geworden.Eine nennenswerte Ausnahme der letzten Jahre bildet dabei der Sammelband: jour fixe-initiative berlin (Hrsg.), Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft. Münster 2000. Dies liegt nicht zuletzt auch an den Verzerrungen marxistisch-leninistischer Provenienz, die in den siebziger Jahren auch auf den akademischen Diskurs einwirkten. Die Verwendung des Terminus Faschismus galt seitdem quasi als Bekenntnis zur marxistischen Doktrin. Auch war sie nicht selten taktisch motiviert und schien durch die emotionalen Affekte dieses Terminus zur nüchternen Analyse kaum mehr zu taugen.

Wie Arnd Bauernkämper in einer neueren Überblicksdarstellung Der Faschismus in Europa schreibt, nahm jedoch »das wissenschaftliche Interesse an den faschistischen Bewegungen und Diktaturen, die sich von 1918 bis 1945 herausgebildet hatten, in den neunziger Jahren wieder zu«Arnd Bauernkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945. Stuttgart 2006, 17. Eine neuere Einführung in verschiedene faschismustheoretische Ansätze bietet: Richard Saage, Faschismus. Konzeption und historische Konzepte. Eine Einführung. Wiesbaden 2007. Ebenfalls Ausdruck des wieder erwachten Interesses ist das Themenheft »Faschismus – eine Debatte« des Mittelweg 36 (1/2007).. Allerdings fanden diese Debatten in der Tradition der vergleichenden Faschismusforschung in Deutschland kaum Beachtung, die Auseinandersetzung spielte sich vor allem in den angelsächsischen Ländern ab, da dort die Bereitschaft größer ist, den Faschismus als Herrschaftspotential moderner Gesellschaften seiner Historisierung zu entziehen. Auch wird international die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus (nicht der Shoa!), wie sie für die deutschen Debatten prägend ist, keineswegs anerkannt. Ein vergleichender Ansatz betrachtet das deutsche Phänomen stärker in seinem europäischen Kontext, um zu klären, ob der Nationalsozialismus nicht die Zuspitzung eines neuen Herrschaftsmodells darstellte, das spätestens nach dem Ersten Weltkrieg in nahezu allen modernen Gesellschaften auftrat und mit dem Begriff Faschismus seinen Namen zunächst aus Italien bezog. Derzeit stehen mit Roger GriffinZu Griffin vgl. Phase 2 Nr. 16 und 17/2005. Seit der dort angeführten Literatur ist zudem erschienen: Roger Griffin (Hrsg.), Fascism Past and Present, West and East. Stuttgart 2006. Der Sammelband enthält vor allem eine erweiterte Fassung der »Griffin-Kontroverse« von 2004., Stanley PayneStanley Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung. Berlin, München 2001. und Robert O. Paxton hauptsächlich englischsprachige Forscher im Zentrum der internationalen Auseinandersetzung. Zu den jüngsten Produkten der Forschung zählen dabei Paxtons 2004 auf Englisch veröffentlichte Gesamtdarstellung Anatomie des Faschismus, die seit 2006 in einer deutschen Übersetzung vorliegt, und Roger Griffins umfassende Studie über den modernistischen Gehalt faschistischer Ideologie, die im letzten Jahr erschien.Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus. München 2006; Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler. Basingstoke 2007.

Griffin untersucht hauptsächlich kulturpolitisches Terrain mit all seinen gouvernementalen und biopolitischen Implikationen und untermauert seine Leitthese vom Faschismus als eines utopisch-populistischen Mythos nationaler Wiedergeburt. Wie bereits in vorherigen Publikationen beachtet er besonders den Anspruch des Faschismus, eine neue historische Ära mit einer neuen Ordnung einzuleiten. In der Denktradition Zeev Sternhells stellt bei Paxton und Griffin der Faschismus einen grundsätzlich neuen Faktor in der politischen Ordnung der Moderne dar, der ihren drei klassischen Säulen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus eine weitere hinzufügt. Daher sucht Paxton einen »generischen Terminus für etwas, was ein generelles Phänomen darstellt, tatsächlich sogar die wichtigste politische Innovation des zwanzigsten Jahrhunderts: eine Volksbewegung gegen die Linke und gegen den liberalen Individualismus. Wenn wir den Faschismus näher betrachten, dann werden wir glasklar erkennen, wie sich das zwanzigste Jahrhundert vom neunzehnten unterscheidet und was das einundzwanzigste vermeiden muss.«Paxton, Anatomie, 37. Gilt der Faschismus als eigenständige politische Kraft in der Phase moderner Massenpolitik, wird auch die Frage vermieden, ob es sich beim Faschismus ›eigentlich‹ um Formen des Konservatismus oder Liberalismus handelt; dafür tritt der von Sternhell, Griffin und Paxton hergestellte Zusammenhang zwischen Faschismus und der Moderne in den Vordergrund.

Paxton richtet sein Augenmerk auf die Entstehung und den Werdegang der faschistischen Bewegungen im internationalen Vergleich. Die ständige Debatte der Faschismusforschung, ob es sich primär um eine Weltanschauung oder um eine Herrschaftspraxis handelt und wie mit den unterschiedlichen nationalen Ausprägungen des Faschismus umzugehen ist, kontert er mit einem schlüssigen Modell. Demnach zerfällt das Gesamtphänomen in fünf Phasen, die keineswegs miteinander harmonieren müssen: 1. Die Entstehung der Bewegung, 2. deren Verwurzelung im politischen System, 3. der Griff nach der Macht und 4. die Machtausübung; die schließlich in 5. der Radikalisierung und dem Niedergang der faschistischen Herrschaft münden. Die Stunde der reinen Lehre, das macht Paxton deutlich, war mit der Eroberung der Macht meist vorüber, in den Vordergrund trat die Herrschaftspraxis, mit ihr kam entweder die Radikalisierung, für die prototypisch die Shoa steht, oder aber wie in Franco-Spanien die zunehmende Verwässerung hin zu einem reaktionären oder konservativ-autoritären Regime. Nach dem Ende der ›Kampfzeit‹, also mit erfolgreicher Installierung faschistischer Systeme, trat daher eine generelle Verschlechterung des Verhältnisses der Bewegung zur Theorie ein, was für ihn eine rein weltanschauliche Erfassung des Phänomens erschwert: »Die Intellektuellen fanden ihr Verhältnis zu den faschistischen Regimes stärker belastet als zuvor das zu den faschistischen Bewegungen.«Ebd., 205.

Die Unterteilung des Gesamtphänomens in Phasen hilft, Widersprüche in der historischen Entwicklung unter einem Begriff fassen zu können. Der Gedanke ist dabei nicht neu. So ließen sich in der Vergangenheit durch solch ein diachrones Herangehen etwa Widersprüche zwischen zwei Klassikern der Forschungsliteratur versöhnen. Demnach gilt Ernst Fraenkels Doppelstaat, der 1941 den Dualismus des faschistischen Staates als »Normenstaat« einerseits und »Maßnahmenstaat« andererseits beschrieb, als eine Beschreibung der Konsolidierung nationalsozialistischer Herrschaft bis 1938, während der wenig später von seinem Freund Franz Neumann publizierte Behemoth die Periode der Radikalisierung erfasste. Letztendlich übernimmt Paxton auch diese Aufteilung, wenn er die Konsolidierung faschistischer Herrschaft als vorletzte Stufe beschreibt und anschließend nach den Triebkräften ihrer finalen Radikalisierung sucht.

Paxton wendet sein mehrstufiges Modell auf die verschiedenen faschistischen Bewegungen Europas an. Dabei werden die Phasen hauptsächlich an den historischen Beispielen Deutschlands und Italiens untersucht, aber auch deren Verbündete wie Ungarn, Rumänien, Kroatien oder Bewegungen wie in Frankreich oder Großbritannien ausführlich mit einbezogen. Schließlich wendet er sich auch den außereuropäischen Phänomenen zu, wobei er hauptsächlich den USA, Lateinamerika und Japan seine Aufmerksamkeit schenkt. In einer abschließenden Betrachtung des Materials bemüht sich Paxton, das Referierte trotz seiner Heterogenität auf eine Formel zu bringen, welche die Differenziertheit der Gesamtstudie zu wahren vermag. Demnach ist der Faschismus für Paxton »eine Form des politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt und mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion verfolgt.«Ebd. 2006, 319. Das Resultat ist gegenüber Griffins Formel eines ultranationalistisch-palingenetischen Mythos weniger prägnant, dafür legt es mehr Gewicht auf die Herrschaftspraxis.

Faschismus und Demokratie

Für Paxton ist die Entwicklung des Faschismus stets mit dem Scheitern – wenn auch kurzlebiger – demokratischer Anläufe verbunden. Das ist kein totalitarismustheoretisches Argument, sondern zielt auf das spezifisch affirmative Verhältnis des Faschismus zu den Massen. Zur Überwindung traditionell konservativ dominierter Elitenkartelle, deren Herrschaftsmonopol durch den Faschismus stets in Frage gestellt wurde, bediente sich der Faschismus stets der Dynamik politisierter Massen. Diese traten aber erst durch den modernen Demokratisierungsprozess in die Politik. Damit werden für Paxton die Massen der signifikante Faktor der Moderne, nicht die kapitalistische Produktionsweise, wobei er die historischen Zusammenhänge zwischen Produktion und Genese des bürgerlichen Subjekts übergeht, die dem Verlangen der Masse nach politischer Mitbestimmung zugrunde liegen. Gleichsam unausgesprochen nimmt er mit diesem auf die Massen als politisches Objekt und Subjekt des Faschismus zugleich bezogenen Ansatz die Gedanken neomarxistischer Kulturkritik auf, die sich vor allem der Decodierung faschistischer Elemente in der Massenkultur widmet. Trotz seiner tiefgreifenden Veränderungen in der nationalen politischen Kultur, die solch eine Akzeptanz der Masse in der Politik im Vergleich zum Konservatismus bedeutete, verzichtet der Faschismus stets auf tatsächliche Einschnitte in die soziale Ordnung. Ähnlich wie Sternhell betont auch Paxton das Versprechen des Faschismus zur Integration der bisher aus der Nation Ausgestoßenen, die früher das Proletariat und heute die autochthone Unterschicht repräsentieren. Dieses tatsächlich für ihn unlösbare Versprechen setzt ihn unter entsprechenden Handlungsdruck.

So gesehen stellt der Faschismus den Versuch einer kontrollierten, aber zugleich hyperdynamischen Adaption der modernen Triebkräfte des Sozialismus dar, seine politischen Bündnispartner sind, daran lässt auch Paxton keinen Zweifel, aber immer der Konservatismus und Liberalismus. Auch geht er stets nach dem gleichen Grundmuster vor: Im Moment der faschistischen ›Revolutionen‹ bemächtigt sich die Bewegung eines bestehenden Staatswesens (meist durch einen ›kalten‹ Staatsstreich) und wandelt dieses mit Hilfe von Bündnissen mit Militär, Eliten und Verwaltung in ein faschistisches um. Klassischerweise ist solch ein Vorgehen vor dem destabilisierenden Hintergrund einer Wirtschaftskrise erfolgreich, was den Marxismus-Leninismus dazu verleitete, darin einzig einen konterrevolutionären Krisenautomatismus des Liberalismus zu sehen. Diese Frage der Massenmobilisierung scheidet den Faschismus vom traditionellen Konservatismus und blieb zugleich der blinde Fleck der stalinistischen Faschismusdoktrin.

Wer sind nach diesem Muster aber die gefährdeten Gesellschaften? Im Westen, so hat sich nach Paxton gezeigt, haben sich seit 1945 Kontrollmechanismen bewährt, die zwar nicht die Existenz faschistischer Strömungen verhindern, sehr wohl aber deren Erfolge. So räumt er freimütig ein, nach der amerikanischen Niederlage in Vietnam mit einem Faschisierungsschub in den USA, getragen durch Kriegsveteranen und massive Propaganda gegen die Friedensbewegung, gerechnet zu haben – der schließlich aber ausblieb. Das größte Potential in Europa, das dürfte derzeit auch Konsens der Forschung sein, liege im Osten, wo nach dem Zerfall der Sowjetunion der Nationalismus extremen Aufwind bekommen hat und mit den autoritären Rudimenten der realsozialistischen Staaten eine brisante Mischung bildet.

Religiöser Faschismus?

Kurz wendet sich Paxton auch Israel zu, von dem angesichts eines quasi ununterbrochenen Krisenzustandes seit der Staatsgründung in Kombination mit einer westlich-demokratischen Gesellschaftsordnung eine Radikalisierung zu erwarten wäre. Doch wirkte in diesem Fall der Umstand, dass Israel seine nationale Identität mit Demokratie und Menschenrechten verknüpft habe, lange Jahre als Barriere. Mit Sorge sieht er allerdings eine »Gewichtsverlagerung innerhalb der israelischen Bevölkerung von den europäischen Jüdinnen und Juden, den Hauptträgern der demokratischen Tradition, zu den Jüdinnen und Juden aus Russland sowie aus Nordafrika und anderswo im Nahen Osten, denen diese Tradition relativ gleichgültig«Ebd. 2006, 298f. sei. Insofern liegt für Paxton das Faschisierungspotenzial Israels weniger bei der traditionellen aschkenasischen Elite, sondern hauptsächlich aufseiten sephardischer Gruppen und der nationalreligiösen Rechten. Letztere hat in der jüngeren Vergangenheit vor allem über den radikalen Teil der Siedler in der Westbank tatsächlich an Bedeutung gewonnen und Israels ›alte‹ Ultrarechte abgelöst, deren äußerste Ränder einmal am italienischen Faschismus orientiert waren. Verglichen mit dieser ist die religiöse Rechte allerdings wesentlich aggressiver, auf ihr Konto geht immerhin die Ermordung des Ministerpräsidenten Rabin 1995, wie ihr auch das Attentat auf Zeev Sternhell im September dieses Jahres zugeordnet wird.Hier kommt, bittere Ironie der Geschichte, die von Sternhell selbst hervorgehobene Differenz zwischen Nationalsozialismus und Faschismus zum Tragen. Anders als im Nationalsozialismus ist der Antisemitismus nicht zwingend notwendig für eine faschistische Bewegung. Es reicht aus, die Positionen des inneren und äußeren Gegners strukturell zu besetzen, was sich im jüdischen Staat gegen die Linke und die Palästinenser wenden kann.

Angesichts der machtvollen Wiederkehr religiöser Politik ist es eine Schwäche von Paxtons Buch, die Genese eines religiösen Faschismus nicht weiter auszuführen, denn die israelische Entwicklung ist keineswegs spezifisch, sondern symptomatisch für eine weltweite Verschiebung ultrarechter Positionen aus dem Staatszentrismus in das religiöse Feld. Micha Brumlik kritisierte in einer sonst lobenden Besprechung, dass Paxton letztlich selbst vor der Konsequenz zurückschrecke, das von ihm entwickelte Modell etwa auf den Iran anzuwenden.Micha Brumlik, »Gegen allen Alarmismus«, in: taz vom 16. März 2006. Die Zurückhaltung gerade der amerikanischen Autoren hat allerdings auch damit zu tun, dass die amerikanische Rechte mittlerweile zu einem ähnlich polemischen Gebrauch des Faschismus-Begriffs neigt, wie einstmals die Linke. So geistert die Vokabel des Islamofaschismus als Kampfbegriff durch den politischen Diskurs, ohne dass ihre Verfechter sie jemals systematisch überprüft haben. Einige Anläufe unternimmt: Michael Burleigh, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. München 2008. Das Buch widmet dem politischen Islam ein eigenes Kapitel, das aber wenig analytisch und erhellend ist. Demgegenüber hat sich Walter Laqueur, selbst ein Vertreter der Totalitarismustheorie, unter der Überschrift des »Postfaschismus« schon vor dem 11. September 2001 ausführlicher mit dem Islam befasst. Vgl. Walter Laqueur, Faschismus. Gestern – Heute – Morgen. Berlin 1996, 197 ff. Tatsächlich streift Paxton dieses Regime nur, wie er auch generell den islamischen Kulturkreis vernachlässigt. Diese Auslassungen sind auch in der grundsätzlichen Frage nach dem säkularen Charakter faschistischer Herrschaft begründet. Stanley Payne argumentiert, dass ein religiös-fundamentalistisches System stets auf die kanonischen Texte gestützt sei, das faschistische Führungspersonal jedoch über unbegrenzte Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse verfüge, was diese Herrschaftsform unabänderlich der säkularen Moderne zuschlage. Die Einschränkung der Führungsgewalt durch religiöse Dogmen unterminiere somit ein wesentliches Merkmal des Faschismus. Paxton hält dem entgegen, dass der religiöse den nationalen Integrismus vollständig ersetzen könne. Auch wäre der These vom grundsätzlich säkularen Charakter des Faschismus die Erkenntnis der materialistischen Religionskritik entgegenzuhalten, nach der »die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist«Karl Marx, 4. These über Feuerbach 1888. http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_533.htm., Religionskritik also Herrschaftskritik ist. Transzendent hergeleitete Herrschaft stellt keine Beschränkung der Führergewalt dar, sondern dient im Zweifel ihrer totalen Legitimation.

Das entscheidende Element für die Möglichkeit eines religiösen Faschismus liegt eher im Verhältnis der Religion zum Nationalstaat, schließlich betrachten nahezu alle Studien den Faschismus als die »revolutionärste Form des Nationalismus«.Payne, Geschichte, 593. Als häufige Beispiele für das Zusammengehen von Nationalstaat und Religion in zeitgenössischen faschistischen Bewegungen dienen neben der nationalreligiösen Bewegung in Israel auch evangelikale Strömungen in den USA. Die Frage, ob der Islam Interesse an staatlicher Verfasstheit hat, wäre aber auch mit Verweis auf die islamische Republik Iran, oder aber auch auf politische Kräfte wie Hamas und Hizbollah klar zu beantworten.

Paxton begründet seine Auslassungen der islamischen Welt in seinen Studien zum Faschismus. Da nach seinem Model eine gescheiterte Demokratie notwendige Vorbedingung für die Entstehung einer faschistischen Bewegung ist, die islamische Welt aber noch keine demokratischen Formen hervorgebracht hat, ist diese auch nicht in der Lage, den Faschismus zu entwickeln. Diese Argumentation Paxtons ist aber nur begrenzt schlüssig, denn wenn der für den Faschismus entscheidende Impuls der Demokratisierung der Eintritt der Massen in die Politik war und in Hinblick auf Europa die ebenfalls recht knappe demokratische Vorgeschichte des italienischen oder deutschen Faschismus ausreicht, so könnten ebenso antikoloniale Aufstände oder vergleichbare Massenbewegungen vom Panarabismus bis zum Islamismus die Funktion der massenhaften Politisierung übernehmen. Es bleibt aber unklar, wie normativ Paxtons Demokratiebegriff ist. Definiert er als solche ausschließlich westlich-liberale Gesellschaftsformen oder lässt er zunächst jede Form der Massenpolitisierung als hinreichende Bedingung gelten? Im letzteren Fall wäre sein Argument durchaus auch in der islamischen Welt anwendbar. Schließlich stützt sich der politische Islam auf die Massen; zudem hat der Prozess der Moderne im 20. Jahrhundert im Zuge von Globalisierung und Migration auch islamische Gesellschaften erreicht und zumindest die Kultur ihrer Metropolen, das Denken der Eliten und auch Teile der Produktion geprägt. Es war dieser Prozess, gegen den der politische Islam sich seit Sayyid Qutb zu formieren begann; er ist daher selbst Teil der Moderne und kein vormodernes Relikt.Vgl. zur Entwicklung von Qutb bis Bin Laden: Lawrence Wright, The Looming Tower. Al-Quaeda 's Road to 9/11. New York 2006. Die negative Aufhebung des bürgerlichen Subjektes, die als Quintessenz des Faschismus zu begreifen ist, ist auch als Anliegen des politischen Islam unverkennbar.

Mythos und Modernität

Ein weiteres Argument Paynes gegen die Möglichkeit eines religiösen Faschismus ist die zentrale Funktion des Mythos im Faschismus. Dieser setze daher »einen post-christlichen, post-religiösen, säkularen und immanenten Bezugsrahmen voraus. Sein eigener Mythos säkularer Transzendenz konnte nur dann Anhänger gewinnen, wenn traditionelle Konzepte geistlicher und jenseitiger Transzendenz beseitigt oder zumindest geschwächt werden konnten. Der Faschismus war bestrebt, den Verlust mythischer Orientierungen in der Moderne durch den Entwurf neuer Mythenstrukturen auszugleichen.«Payne, Geschichte, 18 f., vgl. zudem 596. Allerdings geht Payne nicht konkret auf die Frage des politischen Islam ein, was daran liegt, dass auch die zweite deutsche Ausgabe von 2006 der amerikanischen Erstausgabe von 1995 entspricht. Somit sind zwar jahrzehntelange Forschungen des Autors in das Werk eingeflossen, es ist aber auf dem Stand der 1990er Jahre und somit in aktuellen Fragen veraltet. Daher findet sich nur die Andeutung, »fundamentalistische islamische Systeme« seien vom »säkularen Staat faschistischen Typs« (633) grundsätzlich unterschieden. Allerdings stellt sich dann die grundsätzliche Frage, ob angesichts dieses mythischen Charakters des Faschismus tatsächlich von Säkularität gesprochen werden kann und es sich nicht eher um eine postsäkulare Gegenbewegung handelt. Nicht umsonst wird in der Geschichtswissenschaft bereits der Nationalismus des 19. Jahrhunderts auch mit dem Begriff der Säkularreligion bezeichnet. Auch für Sternhell hat der Faschismus selbst »den Charakter einer neuen Religion«Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Berlin 2002, 86. angenommen und bereits in den dreißiger Jahren entwickelte der Wiener Staats- und Gesellschaftstheoretiker Eric Voegelin die These vom Nationalsozialismus als »politische Religion«.Eric Voegelin, Die politischen Religionen. Paderborn 2007. Griffin betont seine Ablehnung, den Faschismus als politische Religion zu begreifen, da politische Ideologien einen grundsätzlich säkularen Charakter hätten (Griffin 1991, 29ff.). Entscheidend ist vor allem die Integration des Mythos in eine moderne Herrschaftsform. Dafür eignen sich sowohl nationale als auch religiöse Mythen. Auch der politische Islam versucht mitnichten, nur das Rad der Zeit auf den Zustand der Lebzeiten Mohammeds und des Kalifats zurückzudrehen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit der Moderne eine eigene islamische Moderne zu konstruieren. Roger Griffin führt unter Verweis auf den führenden Philosophen des italienischen Faschismus Giovanni Gentile aus, dass sich die Glorifizierung der Vergangenheit durch den Faschismus von der Statik konservativer Nostalgie darin unterscheidet, dass ihm diese Vergangenheit hauptsächlich als Reservoir für die dynamische Gestaltung der Moderne dient.Vgl. Griffin, Modernism, 201. Wenn sich die moderne Geschichte als Wiedergeburt in das tradierte nationale Mythenreservoir integrieren lässt, dann ist ein solcher Prozess ebenso mit dem religiösen Mythenreservoir möglich, zumal der die faschistische Ideologie wesentlich tragende Erlösungsgedanke ohnehin religiöse Wurzeln hat.

Weitere Strukturelemente stellen die charismatische Herrschaft des Klerus und der Drang dar, zunächst Parallelstrukturen zur staatlichen Verwaltung v.a. in Wohlfahrt und Rechtspflege zu etablieren. Der Durchbruch zum Faschismus zeigt sich im anschließenden Griff nach dem Staat zur Monopolisierung der religiösen Ordnung. Die Basis für dieses Vorgehen rekrutiert sich dabei aus der akademischen Mittelschicht; nach dem Modell der Muslimbrüderschaften und der Hamas gehen modern ausgebildete Intellektuelle eine Synthese mit den deklassierten Massen ein. Dabei vermögen sie zusammen mit der Priesterkaste die klassische Rolle faschistischer Bürokraten und Technokraten zu erfüllen. In dieser Konsequenz vermag der islamische Staat nicht nur über die Scharia zu verfügen, sondern auch über Fernsehsender, Datenbanken und moderne Waffensysteme zu ihrer Durchsetzung. Wie dynamisch sich der Rückgriff auf Mythen die Dynamik und Aggressivität einer politischen Bewegung steigern kann, zeigt auch der mittlerweile fest in das Weltbild des politischen Islam integrierte Antisemitismus. Moishe Postone hat den gescheiterten Strukturwandel in den islamischen Gesellschaften nach dem Niedergang des Fordismus als ursächlich für das Erstarken des Antisemitismus benannt.Vgl. Moishe Postone, »Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus«, in: ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg 2005, 195–212. Damit konnte, wie in Europa, ein ursprünglich religiöses Feindbild in die Moderne überführt werden, das seine Dynamik gerade daraus zog, dass es ein Erklärungsmodel für ökonomische Prozesse und soziale Konflikte bot.

Für die derzeitigen Auslassungen der Faschismusforschung zur Frage eines religiösen Faschismus gibt es also keinen Grund. Aufgrund der nicht zuletzt durch das Spektakel einer globalen warenproduzierenden Ökonomie garantierten Beständigkeit des Mythos – auch in der säkularen Moderne – kann überall unter dem Druck eines konservativen Klerus und im Zusammenspiel mit einer Massenbewegung eine Synthese eingegangen und eine faschistische Gegenmoderne als Herrschaftsform generiert werden. Das hat die europäische Geschichte hinlänglich bewiesen.

VOLKER WEIß

Der Autor ist Historiker aus Hamburg.