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Sous l'eau

Emanzipation und Gesellschaft

Frühling 2020

Editorial

In Halle versuchte ein antisemitischer Täter Jüdinnen und Juden, die in der Synagoge Yom Kippur feierten, zu töten. So verachtenswert die Tat ist, wer überrascht davon ist, dass rechte Gewalt in Deutschland real mordet, hat wohl die letzten dreißig Jahre geschlafen. Weiter

Inhalt

Top Story

Jan Hoff

Autonomie als emanzipatorisches Grundprinzip

Wenn der österreichische Autor Martin Birkner verkündet, »[d]ie Linke hat die besseren Analysen, die besseren konkreten Utopien und die besseren Vorschläge zu ihrer politischen Umsetzung, alleine: Sie wird nicht oder zu wenig gehört.«Martin Birkner, Aufhebung der Institutionen als konkrete Utopie, in: Alexander Neupert-Doppler (Hrsg.), Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalismus, Stuttgart 2018, 258., so möchte man dem entgegnen: Die Linke besitzt großenteils überhaupt keine Analysen und konkreten Utopien. Und besitzt sie doch konkrete Utopien, handelt es sich zumeist um autoritär-hierarchische Modelle einer etatistischen Avantgarde- Herrschaft, die für die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung—die es zu überzeugen gälte—nicht attraktiv sind. Dass die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung der Linken kein Gehör schenkt, liegt zum großen Teil an der inhaltlichen Ausrichtung der Linken selbst und der tatsächlichen historischen Erfahrung mit selbsternannten, autoritär agierenden »Avantgarden«. Weiter…

Marlene Pardeller / tagediebin

Ein eigenes Zimmer hatte ich mal

Subjektwerdung und Selbstverlust im bürgerlichen Feminismus

Ehepartner_in, Kind, Kleinfamilie – dies sind Dinge, die sich vor zehn Jahren in unserem gesellschaftskritischen Umfeld niemand zu wünschen schien. Jedenfalls praktizierte sie kaum jemand. Schließlich hatte sich dieses Umfeld, mehr oder weniger bewusst, genau in Abgrenzung gegen dieses Modell gebildet, das viele von zu Hause kannten, und gerade die weibliche Rolle darin als für sich unannehmbar ablehnten. Weiter…

Jonas Fischer

Nun sag, wie hast du’s mit dem Staat

Zum Spannungsverhältnis politischer und menschlicher Emanzipation

Karl Marx warf in Bezug auf die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Art der Emanzipation auf. Während die politische eine Emanzipation durch den Staat und im Staat meint, zielt die menschliche auf die Emanzipation vom Staat, der seine von der Gesellschaft getrennte Form verlieren soll. Die politische Form der Emanzipation, die Marx aus den bürgerlichen Revolutionsbewegungen Europas entwickelte, reproduziert die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft—die Zersetzung des Menschen in bourgeois und citoyen—und setzt den bourgeois als »eigentlichen und wahren Menschen«Karl Marx/Friedrich Engels, Zur Judenfrage, Marx-Engels-Werke (MEW) 1, 366.. Sie verhält sich dadurch zur bürgerlichen Gesellschaft »als Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis«Marx/Engels, Zur Judenfrage, MEW 1, 370.. Indem die politische Emanzipation auf die politische Sphäre begrenzt bleibt, rührt sie deren Ursprung, die bürgerliche Gesellschaft, nicht an. Dagegen ist die menschliche Emanzipation die radikale Umgestaltung der gesamten Gesellschaft, die den Menschen von aller personalen und gesellschaftlichen Herrschaft befreien soll. Auch wenn Marx die immanente Grenze der politischen Emanzipation aufzeigt, verwirft er sie nicht, sondern sieht ihr gleichwohl begrenztes Potential sehr klar. Die politische Emanzipation kann ein Moment der menschlichen Emanzipation, jedoch nicht mit ihr identisch sein: »Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzt Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.«Ebd., 356. Weiter…

Philipp Hanke

Liberté, égalité—impossibilité

Über die Haitianische Revolution, Marx, Voodoo und die Geschichte der Emanzipation.

Als gegen Ende September 1791 in Paris erste Berichte über einen SklavInnenaufstand in Saint-Domingue eintrafen, hielten diese nur die wenig-sten für wahr. Einige dachten an eine Falschmeldung. Andere—je nach politischer Couleur—nahmen an, dass die Nachrichten aus Übersee der Winkelzug einer aristokratischen Verschwörung seien, welche die Revolution in Frankreich hintertreiben wolle. Wieder andere sahen darin die Bestätigung eines republikanischen Komplotts, der Frankreich um die hochprofitable Kolonie bringen wolle. Eine SklavInnenrevolte, noch dazu ein Aufstand, der sich nicht auf eine Plantage beschränkte, sondern in dem sich bereits zehntausende SklavInnen selbst befreit haben sollten, erschien den europäischen ZeitgenossInnen als ein Ding der Unmöglichkeit und ein schlechthin undenk- Weiter…

f_act

Den Shah loswerden und die Mullahs bekommen

Wie eine erfolgreiche Revolution der Emanzipation im Weg steht

Frank-Walter Steinmeier gratuliert am 21. Februar 2019 den Machthabern im Iran zu 40 Jahren »erfolgreicher Revolution«. Diese Revolution bedeutet für die iranische Bevölkerung: 40 Jahre Terror, Unterdrückung und Gewalt. In den ersten drei Monaten des Jahres 1979 zerschlugen sich die Emanzipationshoffnungen der Menschen, die für Veränderung gekämpftDie besten Informationen kommen von Vlogs oder Social-Media, etwa unter Hashtags wie #GirlsOfRevolutionStreet oder #dancingisnotacrime hatten und nicht für die Fortsetzung eines repressiven Regimes. Am 16. Januar 1979 floh Diktator Shah Mohammad Reza Pahlavi nach jahrelangen Protesten, woraufhin am 1. Februar Ajatollah Ruhollah Musawi Khomeini aus dem Exil nach Teheran zurückkehrte. Zehn Tage später brach das Regime des Shah endgültig zusammen. Nachdem Khomeini-treue Revolutionskomitees die Macht übernahmen, rief Khomeini am 1. April die islamische Republik Iran aus, wie sie bis heute besteht. Weiter…

Steffen Stolzenberger

Schlechte Unendlichkeit

Zur Regressionsgefahr im (Queer) Refugee Support

In Abgrenzung zur im Sommer der Migration kurzfristig inszenierten Helferkultur haben sich aktivistische Gruppen formiert, die sich kontinuierlich der Unterstützung von Geflüchteten annehmen. Eine Auseinandersetzung mit diesem Engagement zeigt, dass dessen genuin politischer Anspruch—der Anti-Rassismus—mit seiner Entpolitisierung durchgesetzt wird. Dies geschieht vermittels kultur-relativistischer Konzepte, die in einer unbestimmten Kritik und letztlich der Affirmation des Kapitalismus resultieren. Als eine polit-ökonomische Produktionsweise, die sich gegen die eigenen historischen Voraussetzungen verselbstständigt hat und nunmehr ihre Existenzbedingungen aus immanenten Strukturgesetzen heraus reproduziert, assimiliert er noch Formen des politischen Widerstands seinem Funktionszusammenhang. Weiter…