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Mähnäbteheu

Zur Religion und ihrer Kritik

Herbst 2021

Editorial

Fast hätten wir es verpasst. Wir waren so in die Redaktion und Produktion dieser Phase vertieft, dass uns eines beinahe entgangen wäre: Vor genau 20 Jahren ist die erste Phase 2 erschienen. Wow, 20 Jahre! Irgendwie fühlen wir uns noch immer als Newcomer. Vielleicht liegt es daran, dass immer wieder neue Menschen die Phase gestalten, oder daran, dass uns weder Themen noch Kritik ausgehen. Vielleicht ist es auch nur der Wunsch jugendlich zu bleiben, der den Blick auf die Realität verschwimmen lässt. Schließlich sind wir eine Zeitschrift gegen die Realität. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2

Mähnäbteheu

Zur Religion und ihrer Kritik

Gewaltig ragen die Granitpfeiler des Kunstwerks »Dodekalitten« auf einem Hügel an der Nordküste der dänischen Insel Lolland empor. Zwölf Figuren mit einer Höhe von sieben bis neun Metern stehen in einem Kreis von 40 Metern Durchmesser. Die steinernen Gesichter sind nach innen gerichtet, ihre ernsten Mienen halten dem Blick der Betrachterinnen regungslos stand. Im Takt von zehn Minuten ertönt aus versteckten Lautsprechern sphärische, abwechselnd mit Trance- und Elektrobeats untermalte Musik. Wer im Innenkreis dieser bewusst artifiziellen Imitation einer prähistorischen Kultstätte steht, wird vom Sound sowie von der Größe des Steinarrangements überwältigt. Mit etwas Ruhe und im richtigen Licht lässt sich ein Gefühl erahnen, das sich irgendwo zwischen Wohlgefallen und Bammel, Wirklichkeitssinn und Mystik, Welt und Geist abspielt. Der Bildhauer Thomas Plesner Birch Kadziola und der Komponist Wayne Siegel errichteten mit ihrer monumentalen Installation nicht nur einen Tourist:innenmagneten. Zwar scheitern die »Dodekalitten« in ihrem Versuch der Nachbildung eines religiösen Ortes nicht zuletzt wegen ihres allzu beherzten Griffs in die Effektkiste. Doch kommt man nicht umhin, sich beim Anblick der auf den Hügel pilgernden Menschen die Frage zu stellen, was hier, neben der Möglichkeit ein Fleckchen Weizenfeld am Meer zu einem Spektakel werden zu lassen, eigentlich für ein Bedürfnis angesprochen werden soll. Ist es die Sehnsucht nach Zauber, Magie und Kult? Nach einem Höheren, Ewigen, Absoluten? Weiter…

Rainer Trampert

Der grüne Schöpfungsmythos

Die Partei der wahren Religionswächter trägt kein C im Namen.

Wenn Grüne nach ihrem Verhältnis zur Religion gefragt werden, berufen sie sich großspurig auf die Bewahrung der Schöpfung, als hätte Gott persönlich ihnen den Auftrag erteilt, sein bedrohtes Werk zu retten. Wer mit der Rettung des Planeten um Stimmen wirbt und dabei auf den Kreationismus anspielt, will mit seiner religiösen Erleuchtung prahlen, ob aus Überzeugung oder wahlpolitischem Opportunismus. »Wir haben das C zwar nicht im Namen, aber wir haben es im Programm« (bayerische Grüne). Bei Politkadern, die von Berufs wegen auf Stimmenfang sind und deren Sprache zu einem Werbeslogan für die Ware Partei mutiert ist, lässt sich kaum feststellen, ob sie reinen Herzens religiös sind oder nur Religiosität heucheln, weil keine Stimme verloren gehen soll. Dabei geht es nicht nur um die Gläubigen, sondern um alle, die das christliche Abendland als Kulturraum begreifen, der vor fremden Einflüssen zu schützen sei, obwohl Fremde ihm erst Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht haben und es ohne den Juden Jesus aus dem Morgenland gar kein christliches Abendland gäbe.   Weiter…

Koschka Linkerhand

Pro Kopftuch und Kontra Abtreibung

Über die Frauenverachtung von christlichem und islamischem Fundamentalismus in zunehmend autoritären Zeiten

In der feministischen Theorie ist die grundsätzliche und konfessionsübergreifende Religionskritik ziemlich eingeschlafen. Dabei wird an verschiedenen religionspolitischen Fronten gekämpft: Einer frauen- und bürgerrechtlich orientierten Islamkritik steht ein zunehmendes linksradikales Engagement gegen die Umtriebe christlicher Fundamentalist:innen gegenüber.  Weiter…

Erwin Fraenkel / Alex Struwe

Mythos komplexe Welt

QAnon und der gegenwärtige Stand der Aufklärung

Bis heute lautet eine der geläufigsten Erklärungen für den Fortbestand des religiösen Bewusstseins ungefähr so: Religion sei in einer aufgeklärten modernen Gesellschaft etwas Rückständiges. Sie biete aber eine einfache und umfassende Deutung des Ganzen und deshalb wendeten sich die Menschen ihr zu, wenn es unübersichtlich und chaotisch zugeht. Religion verspreche etwas von einer verlorenen Sicherheit, Halt und Gewissheit, damit letztendlich Trost und Zuversicht, wo die Welt aus den Fugen geraten scheint. Kurzum: religiöses Bewusstsein sei ein Krisenprodukt.  Weiter…

Inka Sauter

Streitfall Säkularisierung  

Oder: Als Hans Blumenberg und Hermann Lübbe auf Karl Löwith trafen. 

Im Oktober 1962 fand in Münster der VII. Deutsche Kongreß für Philosophie mit dem Thema Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt statt. Bei dieser Gelegenheit diskutierten Hans Blumenberg, Hermann Lübbe und Karl Löwith über Begriff und Geschichte der Säkularisierung. Blumenberg war Philosoph, sein Studium der katholischen Theologie musste er 1940 aufgrund der rasseideologischen Gesetzgebung des Nationalsozialismus abbrechen. Der etwas jüngere Lübbe studierte nach 1945 Philosophie und Theologie, erst 2007 wurde bekannt, dass er 1944 in die NSDAP eingetreten war. Löwith hatte 1928 bei Martin Heidegger habilitiert, später übte er scharfe Kritik an dessen Philosophie. Löwith, bedroht aufgrund seiner jüdischen Herkunft, emigrierte Mitte der 1930er Jahre über Italien nach Japan und 1941 in die USA. 1952 erhielt er einen Ruf an die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Auf dem Kongress im Oktober 1962 übernahm er die Diskussionsleitung eines Kolloquiums mit dem Titel »Säkularisation«, in dem Blumenberg und Lübbe vortrugen.Die Debatte wird hier nicht neuentdeckt und auch nicht in ihrem vollen Umfang betrachtet. Insbesondere Blumenbergs Kritik am Säkularisierungstheorem sowie die weit über den Kongress 1962 hinausgehende Kontroverse zwischen ihm und Löwith ist bereits an verschiedenen Stellen thematisiert worden.Auf den ersten Blick scheint das Kolloquium nicht recht zu dem Kongress zu passen. Doch Löwith hatte in seinem Buch Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History bereits 1949 über Säkularisierung und die »theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie« nachgedacht, wie es im Untertitel der deutschen Übersetzung Weltgeschichte und Heilsgeschehen lautet. Darin führte Löwith die These aus, dass das moderne Fortschrittsdenken säkularisierte christliche Eschatologie (Endzeitlehre) sei. Er griff mit der These implizit die geschichtsphilosophische Konfrontation von Liberalismus und Kommunismus auf. Die Studie steht damit geradezu paradigmatisch für die geistesgeschichtliche Konfliktlage wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und am Beginn des Kalten Kriegs. Sie habe, wie Blumenberg es 1966 in Die Legitimität der Neuzeit beschrieb, »dogmatisierend gewirkt«. Säkularisierung war darin nicht nur zur historischen Interpretationskategorie von Geschichtsphilosophie geworden, auch sie selbst wurde geschichtsphilosophisch aufgeladen.  Weiter…

Christian Schmidt

Ein anderer Bibelfilm war möglich

Über das Verfehlen einer meta-realistischen Authentizität in Milo Raus Das neue Evangelium 

Milo Raus Motivation einen Jesus-Film zu drehen, ist schnell erklärt. Eingeladen, ein Projekt für die europäische Kulturhauptstadt 2019 (das italienische Matera) zu entwickeln, wirft die Referenzmaschine – das zeigen die offenen Bezüge und Filmzitate in Raus eigenem Film ganz offenherzig – ziemlich unmittelbar zwei berühmte Jesus-Filme aus, die an eben jenem Ort gedreht wurden. Es handelt sich um Mel Gibsons The Passion of the Christ von 2004 und die genau vierzig Jahre ältere Verfilmung Das 1. Evangelium – Matthäus von Pier Paolo Pasolini.  Weiter…

Phase 2

Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein

Gespräch mit dem Befreiungstheologen Paul Martin

Eine linke und christliche Position, die zugleich Widersprüche im Verhältnis der Linken zum Christentum aufzeigen kann, ist nicht leicht zu finden. Im Umfeld des christlichen und radikal linken Befreiungstheologischen Netzwerks stießen wir auf Paul Martin. Paul ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg, zuvor arbeitete er als Pfarrer, Religionslehrer und Hochschuldozent in Leipzig. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler 1989/90 studierte er ab 1995 in Berlin Theologie und Philosophie. Er versteht sich als Christ, Anarchist, Teil der emanzipatorischen Linken und ist bei Leipzig nimmt Platz aktiv. Die Phase 2 sprach mit ihm über linke Ressentiments gegenüber gläubigen Menschen, wie das Christentum und linke Politik zusammenhängen und welche Rolle die Kirchen in der linken Bündnispolitik spielen.  Weiter…

Helen Akin

Wenn Kampfbegriffe handlich werden

Eine Kritik an Rahel Jaeggis Entfremdungstheorie

Gesellschaft ist ein dynamisches Geschehen; gesellschaftliche Bewegungsgesetze ändern sich, neue Machtkomponenten und -konstellationen können hinzutreten. Die Frage nach der Geltung unserer Aussagen und Urteile ist an die konkrete historische Lage unserer Gegenwart gebunden und von ihr abhängig. Diesen Zusammenhang gilt es auch mit Blick auf die linke Theoriegeschichte im Fokus zu behalten. Überkommene Begriffe – Entfremdung, bürgerliche Gesellschaft, Klasse etc. – die einst einen Erklär- und vielleicht auch einen Kampfwert hatten, müssen zu späteren Zeitpunkten auf ihre Angemessenheit und Legitimität hin überprüft werden. Wo heute von Entfremdung die Rede ist, hilft es zu fragen, ob dieser Begriff noch hinreicht, um die Gegenwart zu erfassen – ob er noch immer an der Zeit ist.  Weiter…