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Pars Pro Toto

Notwendigkeit und Kritik des Universalismus

Herbst 2022

Editorial

In einer sehr populären Talkshow berichtet einer der Moderatoren, ein sehr populärer ehemaliger Fußballprofi und heutiger Sportjournalist, davon, wie er zusammen mit einem anderen Spieler eine betrunkene und bewusstlose Frau in deren Wohnung mit einer großen Kerze penetrierte, inklusive eindeutiger Handbewegung. Eine Anekdote aus seiner wilden Zeit, wie man sie im Fernsehen eben so erzählt. Es seien andere Zeiten gewesen, er sei jung gewesen. Die beiden weiteren Moderatoren der Sendung – einer ebenfalls früher Fußballer – lachen und scherzen, einer kommentiert, da könne sie ja noch froh sein, dass nichts Größeres in der Nähe war. Wieder wird gelacht. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2

Pars pro Toto

Notwendigkeit und Kritik des Universalismus

Das gute Leben für alle. Das dürfte der politische Grundsatz sein, auf den sich linke Positionen über alle Lager hinweg einigen können. Ohne den Anspruch auf die Emanzipation aller bleiben eine Kritik an den Zuständen und die Visionen eines Besseren zu häufig im Bestehenden verfangen. Die revolutionäre Linke vertritt deshalb den Universalismus: Revolution soll »alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, der Marxismus »ist allmächtig, weil er wahr ist«, die Internationale erkämpft das Menschenrecht und hoch die antinationale Solidarität.  Weiter…

Franziska Haug

»Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt?«

Zum Verlust des Allgemeinen und der Notwendigkeit eines neuen Universalismus

Bereits seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution von 1789 und der darin durch Marie-Olympe de Gouges aufgeworfenen Frage, inwiefern die Kategorie Mensch trotz des faktischen Ausschlusses von Frauen als universell gelten könne, spätestens aber seit 1871 und 1917, ist die Position zum Universalismus eine Gretchenfrage linker Bewegungen und Diskurse. Olympe de Gouges musste mit dem Leben dafür bezahlen, als Frau universelle Bürger:innenrechte zu beanspruchen. Ihr Erbe prägt bis heute die feministischen Debatten um ein universelles Wir der Frauen im Spannungsfeld von Partikularität/Identität und Universalität/Kollektivität. Weiter…

Alex Struwe

Kritik der Solidarität

Über die konkreteste Idee universeller Emanzipation und warum damit trotzdem nichts besser wird

Solidarität war einer der wenigen Hoffnungsschimmer in den jüngsten Krisenzeiten der Coronapandemie. Die Akzeptanz weitreichender Einschränkungen des öffentlichen Lebens zum Schutze vulnerabler Gruppen, Nachbarschaftshilfen, die Rückkehr des Sozialstaats oder zumindest eine Rhetorik, die Menschenleben vor Profitorientierung stellte – war das nicht in all der Regression wirklich etwas Gutes? Ja und Nein. Auch wenn einem viele Beispiele gelebter Solidarität einfallen, sie reichen offensichtlich nicht an die Idee gesellschaftlicher Emanzipation heran, die mit dem Begriff verbunden ist. So machten viele am Begriff der Solidarität die Hoffnung fest, die Krise sei auch eine Chance zur nachhaltigen Veränderung des Zusammenlebens, gar ein historischer Wendepunkt zu einer anderen Gesellschaft. Es gab ökosozialistische Manifeste und die Verheißung einer »neuen Ära der Solidarität«, wie es Jan Korte von der Linkspartei ausdrückte.  Weiter…

Ewgeniy Kasakow

Drei Lieder (nicht nur) über Lenin 

Bolschewiki, Identität und das Problem des Universalismus 

Der real existierende Sozialismus bleibt auch dreißig Jahre nach seinem Untergang ein Thema, an dem linke Selbstvergewisserung stattfindet. Der in der bisherigen Geschichte großflächigste und andauerndste Versuch, die radikalen linken Ideen zu verwirklichen, wirkt abschreckend auf die einen und gilt als Beweis für die Machbarkeit von Gesellschaftsveränderung für die anderen. Gerade in den aktuell omnipräsenten Debatten um die Identitätspolitik fungiert der Verweis auf die »traditionelle Linke«, womit vor allem die leninistischen Parteien im Zeitalter ihres größten Erfolgs gemeint sind, mal als Negativfolie einer vom universellen Wahrheitsanspruch befreiten und für viele unterdrückte Perspektiven sensibilisierte Linken, mal als Gegenbild zu einer in unzählige Ismen zerklüfteten und im Lifestyle versunkenen Szene, die keinen Bezug mehr zu den Massen aufweist. Wie im Folgenden anhand von drei zeitlich weit auseinanderliegenden Episoden aus der Geschichte des Bolschewismus gezeigt wird, sind solche Gegenüberstellungen unabhängig von ihrer Intention historisch nicht korrekt. Vielmehr waren auch die Erbauer:innen des Realsozialismus mit den einschlägigen Fragen konfrontiert und zogen bisweilen Schlüsse, die denen heutiger linksidentitärer Kritiker:innen nicht unähnlich sind.  Weiter…

Hendrik Wallat

Wider Kultur-Relativismus und Standpunkt-Absolutismus

Eine kategorische Verteidigung des Vernunft-Universalismus

Dem Universalismus wird immer wieder der Verwurf gemacht, in Wahrheit ein imperiales Unternehmen zu sein. Was er als universell ausgebe, seien bloß durch Gewalt verallgemeinerte partikuläre Werte, was sich als aufklärerisch verstehe, sei ein im Kern eurozentristisches Projekt. Abgesehen von Positionen, die offen von der Ungleichwertigkeit von Menschen und ihres Lebensrechts ausgehen, die an die Stelle von Vernunft direkt Gewalt setzen, lassen sich folgende Grundkritiken am Universalismus kurz unterscheiden.   Weiter…

Heiko Beyer

Utopie ohne Hoffnung

Zur Dialektik des Universalismus der Menschenrechte

Die Menschenrechte sind die »letzte Utopie« (Samuel Moyn) – die »realistische Utopie« (Jürgen Habermas) einer Gesellschaft, die keine Utopien mehr kennt. Diese utopische Gestalt nehmen die Menschenrechte aber nur aus weltgesellschaftlicher Perspektive an. In der Mehrzahl der Staaten sind sie bereits als Grundrechte verankert, sind sie gerade keine Utopie, sondern Status quo. Ihren minimalistischen utopischen Gehalt beziehen sie aus dem Impuls ihrer universellen Geltung, der Tatsache, dass sie noch nicht in allen Ländern gelten.  Weiter…

Andrea Truman

Ungleichheit durch Gleichheit

Über Menschenrechte und ihre feministische Kritik 

Am 5. Oktober 1789 zogen die Pariser Marktfrauen unter der Parole »Versailles schlemmt, Paris hungert« zum königlichen Schloss. In ihren Händen hielten sie die Menschenrechtserklärung, die sie den König zu unterschreiben nötigten. »Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung«, lautete der zweite Artikel dieser Erklärung, die später zur Grundlage aller bürgerlichen und demokratischen Verfassungen werden sollte. Die Sache hatte nur einen Haken: Bei den proklamierten Menschenrechten waren die mutigen Fischweiber gar nicht mitgemeint. Zwar hieß es im ersten Artikel: »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.« Aber dies bezog sich nur auf Männer. Frauen galten als weniger vernunftbegabt und von anderer Natur, womit ihr politischer Ausschluss und ihr fehlendes aktives und passives Wahlrecht begründet wurde, wenn man überhaupt glaubte, eine Begründung geben zu müssen. Doch auch den besitzlosen Männern wurde im Verlauf der Revolution das Wahlrecht wieder entzogen. Freiheit und Gleichheit galten erst einmal nur für Männer mit Grundbesitz oder einem hohen Einkommen.  Weiter…

Jakob Hayner

Cancel culture und Krise der Linken

Eine Polemik zum Streiten

Der Ablauf der üblichen Feuilletondebatte über cancel culture oder call-out culture sieht vor, dass im ersten Akt die für die gefährdete Meinungs-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit Kämpfenden auftreten, deren Argumente im zweiten Akt von einer kritischen Linken als »rechtes Narrativ« enttarnt werden, und im dritten Akt die jeweilig Auftretenden sich in ihrer Ecke des Rings das verdiente Schulterklopfen im eigenen Kreis für die mutigen Worte gegen ihren Widerpart abholen. Dieser übliche Ablauf hinterlässt jedoch ein schales Gefühl, denn weder die eine noch die andere Seite redet über den Gegenstand, der wie alle geschichtlichen Tatsachen ein mehrdeutiger ist, beispielsweise reales Verhängnis und rechter Kampfbegriff zugleich. Wem an Meinungs-, Wissenschafts- oder Kunstfreiheit etwas liegt, dürfte von der Kommerzialisierung des Öffentlichen und des Wissens, der Macht der Medienmonopole, dem Elend der unabhängigen Presse, dem Wahnsinn der ökonomisierten Hochschulen, den Zwängen im durchökonomisierten Kulturbusiness, der brutalen Konkurrenz unter den Lohn- und anderweitig Abhängigen in all diesen Bereichen, also vom Kapitalismus, nicht schweigen. Doch statt sich der wahren Meinungs-, Wissenschafts- oder Kunstfreiheit zu verschreiben, von der Marx bekanntlich sagte, diese bestehe darin, »kein Gewerbe zu sein«, wird nur ein »Narrativ« zurückgewiesen und reflexhaft eine Gegenposition eingenommen, was sich als Kampf um Definitionen ausdrückt.  Weiter…

Alexandra Colligs

Universalismus im Augenblick seines Sturzes? 

Identität im Spannungsfeld von Allgemeinem und Besonderem 

Identität ist in der Gegenwart zu einer zentralen Kategorie linker Auseinandersetzungen um emanzipatorische Politik und die richtige Praxis geworden. An den jeweiligen Extrempolen stehen sich dabei Vertreter:innen postmoderner Identitätspolitik einerseits und diejenigen, die subjektiven Erfahrungen objektive Klassenverhältnisse entgegenhalten, andererseits gegenüber. Während erstere dem falschen Allgemeinen vielfältige Konstruktionen und Prozesse von Andersheit entgegensetzen, können letztere in den identitätspolitischen Kämpfen um Anerkennung nichts als einen Partikularismus erkennen, welcher mit neoliberaler Individualisierung kompatibel bleibt und am falschen Ganzen also nichts verändert. Entlang dieser Frontstellung soll im Folgenden diskutiert werden, ob sich die Kritik am falschen Allgemeinen in einer Weise reformulieren lässt, die an der Möglichkeit eines linken Universalismus festhält.   Weiter…

Florian Geisler

Wo Freiheit herrscht 

Die Suche nach einem linken Universalismus 

Universalismus ist einer großen Mehrheit der Menschen heute vor allem in der Gestalt der sogenannten westlichen Werte geläufig. Verbunden wird mit dem Begriff zunächst der positive Bezug auf universell geltende Menschenrechte, etwa auf den Schutz des Individuums durch und vor dem Staat. Die individuelle Freiheit, und damit eine relative Freiheit der Meinung und der Presse, sowie die Freiheit, sich in einen geordneten Prozess parlamentarischer Demokratien gleichberechtigt einzubringen, sind zweifellos die Punkte, die in der Regel mit der universalistischen Grundhaltung der europäischen Aufklärung gemeint sind. Bestimmt werden sie dabei assoziativ durch eine rationalistische Wissenschaftskultur und den Säkularismus.  Weiter…