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Raus aus der Zone

Winter 2009

Editorial

Impfen oder nicht impfen, diese Frage wird in der momentanen Kälte heiß diskutiert. Die Schweinegrippe kommt mit der zweiten Welle nun wirklich über uns. Das Schweinesystem wiederum erkennt man unter anderem daran, dass sich die frisch gewählten BundestaglerInnen einen »anderen«, sprich reineren, Stoff verabreichen lassen. Nun wundert die mit allen Analysewaffen ausgerüstete KritikerIn nicht viel und Wahlen lassen uns in der Phase, wie Ihr gemerkt habt, eher kalt, aber beim neuen Kabinett muss man doch die offensichtlich Bandbreite an Fachwissen hervorheben. Einer, der ewig auf die Innenpolitik festgeschrieben zu sein schien, ist nun doch der beste Buchhalter. Die, die qua Geburt(en) prädestiniert für das Familienressort war, verwaltet nun Arbeit(slosigkeit). Und der, der als Shootingstar für Wirtschaft aufgebaut wurde, befehligt nun SoldatInnen… Obwohl: das passt dann doch ganz gut zusammen, Ökonomie und Kriege. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2 Leipzig

Raus aus der Zone

Es ist keineswegs selbstverständlich, das Ende der DDR als eine Zäsur zu verstehen, nach der es sich lohnt, erneut über linke Emanzipations- und Gesellschaftskonzepte nachzudenken. Schließlich – so lautet ein bekanntes Totschlagargument – hätte es sich bei der DDR gar nicht um »echten« Kommunismus gehandelt; mit Marx habe sie ungefähr soviel zu tun wie Mario Barth mit Humor. Doch so einfach ist es nicht. Müssten nicht eigentlich die DDR im Besonderen sowie der Stalinismus und die Realsozialismen im Allgemeinen bohrende Fragen an ein linkes Selbstverständnis stellen? Waren nicht auch sie unter dem Banner des Kommunismus, des Sozialismus und des Antifaschismus angetreten, eine bessere Gesellschaft aufzubauen? Müsste nicht die Geschichte dieser Begriffe und ihrer Umsetzung in die Realität eigentlich zu einer Reflexion darauf führen, wie es um eine Theorie und Praxis bestellt ist, die zumindest negativ auf diese Tradition bezogen bleibt? Und schließlich: Was, wenn nicht die Geschichte des historischen Kommunismus, hat dem Projekt der Emanzipation jenes Vermittlungsproblem eingebracht, mit dem man sich heute herumschlägt?Von all dem – und das ist nicht überraschend – möchte das offizielle Erinnerungsspektakel des Jahres 2009, das immerhin 20 Jahre Mauerfall und 60 Jahre Gründung der BRD einschloss, nichts wissen. Lieber feiert man ein farbenfrohes, ausgelassenes »Fest der Freiheit« – so das Motto der Berliner Veranstaltungen zum Jahrestag des Mauerfalls –, und versichert sich fast schon manisch-autosuggestiv der Segnungen, die man im neuen kapitalistischen und vereinten Deutschland genießen darf. An den ungleich bedrückenderen Gedenkveranstaltungen an die Pogrome der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 haben sicherlich nur wenige PolitikerInnen und BürgerInnen teilgenommen. Was derzeit die erinnerungspolitische Szenerie betrifft: Die Rolle der DDR im nationalen Drehbuch war relativ klar umrissen. Sie ist das staatliche Gegenbeispiel zur sich erfolgreich aus dem deutschen Sonderweg herausarbeitenden BRD. Ihren Höhepunkt findet diese Erfolgsgeschichte – so das Narrativ – 1989 in der ersten erfolgreichen Revolution auf deutschem Boden und der Wiedervereinigung, die fortan die Identität Deutschlands als moderne, aufgeklärte Nation begründet. Weiter…

Philipp Graf

»Nach Hitler wir!«

Zu Anspruch und Wirklichkeit des DDR-Antifaschismus

Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer fallen die Einschätzungen von 40 Jahren DDR und ihres erklärten Gründungsanspruchs, auf deutschem Boden einen antifaschistischen Staat errichten zu wollen, vernichtend aus. Die öffentliche Debatte ist von Desinteresse für den ideologischen Kern der DDR – die sozialistische Gesellschaft – wie auch für ihren antifaschistischen Entstehungsansatz geprägt und ergeht sich stattdessen – in Anbetracht der zeitlichen Distanz wie der Perspektive des »Siegers« der Geschichte nicht ganz unverständlich – in der Würdigung des friedlichen Abstreifens der »zweiten deutschen Diktatur«. Weiter…

Birgit Schmidt

Tabuisierte Vergangenheit

Die DDR zwischen kollektivem Gedenken und individualisierter Erinnerung

Im Mai 1963 provozierte der Germanist Eduard Goldstücker die Regierungen der realsozialistischen Staaten. Goldstücker war der erste Botschafter der Tschechoslowakei in Israel und wurde 1951 in einem Folgeprozess des Slánsky-Prozesses in Prag zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er 1955 begnadigt worden war, lud er zur sogenannten Kafka-Konferenz, um die Rezeption des Kafkaeschen Werkes in den sozialistischen Länder anzuregen. Weiter…

Magnus Henning

Mit Marx gegen die SED

Kommunistische Kritik in und an der DDR

Mit Parolen wie »Smash Capitalism!« konnten KommunistInnen in der DDR nicht agieren und doch hatten sie gute Gründe, die herrschenden Verhältnisse in Staat und Gesellschaft ihres Landes zu kritisieren. Diskutieren Linksradikale heute über die DDR, kommt es zu verschiedensten, teilweise denkwürdigen Urteilen. Selten aber wird über die KommunistInnen in der DDR nachgedacht, die mit dem, was der Realsozialismus ihnen bot, nicht einverstanden waren. Dabei wäre es durchaus interessant zu schauen, inwieweit jene, die zumeist mit Marx gegen die SED-Führung argumentierten, die Möglichkeit hatten, in der Gesellschaft zu wirken oder zumindest Fragen an die Verhältnisse zu formulieren. Ich möchte den Blick auf diese KritikerInnen der DDR lenken und der Frage nachgehen, wie und aus welchen Gründen sie ihre Kritik formulierten. Schon, um nicht anmaßend zu wirken, sei angemerkt, dass es hierfür Grenzen gibt. Weiter…

Renate Hürtgen

»Vom Kommunismus soll schweigen, wer von Stalinismus nicht reden will!«

Warum tun sich Linke mit einer radikalen Kritik an der DDR so schwer? Und was meint überhaupt: »radikal«?

»Vom Kommunismus soll schweigen, wer von Stalinismus nicht reden will!« – dieser Satz bringt Sinn und Zweck einer linken Kritik an der DDR auf den Punkt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, eine Zukunft jenseits von Kapitalismus und jenseits der diktatorischen Gesellschaften des Ostens, die ich hier unter Stalinismus fasse, zu entwerfen. Wir müssen ihre Natur erkennen und einen Gegenentwurf diskutieren, der sich von beiden Gesellschaften gleichermaßen und prinzipiell unterscheidet. Eine linke Kritik an der DDR hat also den Sinn und Zweck, uns die Möglichkeit zu eröffnen, Kommunismus mit den Erfahrungen der Diktaturen des Ostblocks neu zu denken. Weiter…

Rüdiger Mats

Bloß eine neue Maschine aufstellen

Was man aus dem Scheitern des Realsozialismus für die linksradikale Praxis schließen kann – und was nicht

Im Gespräch mit dem Zentralrat der FDJ am 22. Dezember 1988 verkündete Erich Honecker: »Wenn man in einigen Krankenhäusern z.B. Operationen verschieben muss, weil man nicht über die entsprechenden Gummihandschuhe verfügt, dann ist das ein Skandal. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Woran liegt das? […] Der Genosse Schürer [Leiter der Plankommission, R.M.] sagt, er braucht nur eine neue Maschine aufzustellen, und dann kann er ein paar Millionen mehr herstellen. [… Die Handschuhe fehlen], weil der Gesundheitsminister in Verbindung mit der Aids-Bekämpfung die Direktive herausgegeben hat, dass die Zahnärzte auch Gummihandschuhe verwenden müssen. Aber ehe er eine solche Direktive herausgibt, muss er wissen, ob die Handschuhe da sind […]. Es muss also mit Verstand gearbeitet und regiert werden. Außerdem muss ich sagen, mein Zahnarzt hat keine Angst, Aids zu bekommen.« Weiter…

Stefan Krauth

»Bodymore, Murdaland«

Don't hate the playa, hate the game

I.Die für das us-amerikanische Abonnementfernsehen HBO produzierte und weltweit von der Kritik euphorisch gelobte Serie The Wire (2002–2008) ist ein Wunder der Kulturindustrie. The Wire gilt als »urban drama« (The Guardian), »tv as great modern literature« (TV Guide), »novelistic urban saga« (LA Weekly) und gar als »David Simon's version of Dante's Inferno« (Entertainment Weekly). Tatsächlich gelingt ihr gegen alle Wahrscheinlichkeit, in der Darstellung des Elends der postindustriellen Großstadt am Beispiel von Baltimore, Maryland gesellschaftlicher Herrschaft einen Namen und ein Gesicht zu geben. Hier gelingt, was sonst »kritischen« Werken so selten gelingt, weil darin die Namen und Gesichter der Herrschaft letztlich doch an deren Stelle treten. Bilder versagen oder verfangen sich in Charaktermasken. Aber da die Darstellung in The Wire eine realistische ist, verschwinden Namen und Gesichter in dem Moment, in dem unsere humanistischen, subjektkonzentrierten Sehgewohnheiten mit ihnen vertraut werden. Realistisch ist die Darstellung in The Wire deshalb, weil sie die Protagonisten im Moment ihres Verschwindens zeigt, in dem Moment, in dem sie von den übermächtigen gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie sich bewegen, fast vollends absorbiert werden, aber eben gerade noch da sind und gerade noch darstellbar handeln können. Und da die Serie realistisch ist, ist sie trostlos. Vom Dokumentarfilm grenzt sie sich ab, weil The Wire nicht einfach nur dokumentiert, sondern die Produziertheit der in der Wirklichkeit mächtigen Vorstellungen in der Darstellung wiederholend verdichtet (und damit setzt der Realismus von The Wire bereits ein Mehr oder Darüberhinaus, ein nicht bloß abbildhaftes Weltverhältnis voraus). Die Endlosschleife des meist schmutzigen Geschäfts der Politik und der Nachrichten, des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung wird verdichtet, wie sie ist: es gibt keine Gewinner, kein Gut und kein Böse, jeder ist Opfer und Täter zugleich und niemand kann irgendetwas substanziell ändern. Am Ende der Serie, nach 66 Stunden, sind die meisten Figuren brutal ermordet, aus dem Polizeidienst entlassen oder im Gefängnis, aber das Spiel geht weiter oder beginnt, genau genommen, wieder von vorne: aus Omar wird Michael, aus Bubbles wird Duke, aus Daniels wird Carver und aus McNulty wird Sydnor. Der Rapper Ice Cube brachte diese Schleife lakonisch auf den Punkt: The game don't change just the playas. In diesem Sinne ist die Serie von einem antihumanistischen Furor getragen. Gegen den bürgerlichen Traum von Autonomie, Souveränität und Identität demontiert das Narrativ von The Wire schonungslos die Vorstellung, wir seien die Herren unserer Geschicke. Es werden Akteure gezeigt, die sich voller Elan gegen Institutionen stemmen, die gegen die verkrusteten Naturgesetzmäßigkeiten der Straße, der Politik und des Schulsystems angehen und bei all dem vom frischen Wind des Neuanfangs getragen werden. Doch das irgendwann im Laufe der knapp 4.000 Minuten fallende Zitat The more things change, the more they stay the same bringt die Bewegung im Stillstand als zentrales Motiv der Serie zum Ausdruck. Durch alles Scheitern der öffentlichen Institutionen, durch die Korruption und Lügen der Politik, die kleinen Skandale sowie große Zufälle und vor allem durch die persönlichen Kämpfe und Interessen hindurch reproduziert sich eine große Maschine, von der man nicht recht weiß, wo ihr Zentrum sein könnte, die aber alle Menschen verschlingt, die ihre Spielregeln nicht befolgen – und die, die nicht Teil des Spiels sind, ohnehin. Weiter…